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Wer es ehrlich meint mit der sozialen Frage

Thomas Brunner, August 2007

„Gerade wer es ehrlich meint mit der sozialen Frage in der Gegenwart, der muss immer wieder und wiederum betonen: Notwendig ist vorallen Dingen eine freie Entfaltung geistiger Wissenschaft. Das ist nicht irgendwie die Einführung eines Unpraktischen in das gegenwärtige Leben, sondern das ist das Allerallerpraktischte, weil es unmittelbar, wirklich notwendig ist.“ (aus: Rudolf Steiner, 22. März 1919, GA 190, Dornach 1980, S.43f)

Die anthroposophische Bewegung bedarf einer Orientierung an ihrem geisteswissenschaftlichen Ursprung, insbesondere an Rudolf Steiners grundlegendem erkenntnistheoretischen Freiheitswerk – wenn sie nicht zusehends zu einer kontraproduktiven Bewegung werden will.
Nach Rudolf Steiners Tod 1925 gelang es nicht unmittelbar die vermeintlich widerstrebenden Kräfte der treuen Werk-Bewahrung und der eigenständigen Werk-Erarbeitung und -Fortführung zu einen. Rudolf Steiners Integrationskraft fehlte, 1935 zerbrach die anthroposophische Gesellschaft auch äußerlich, die konservativen Kräfte übernahmen die Verwaltung der Gesellschaft und gewährten somit eine äußerliche Kontinuität – doch vielerlei innovative Kräfte wurden in die Peripherie zerstreut.
Nach 1945 begann mit dem Wiederaufbau des zerstörten Europas zugleich auch die neue Epoche der Etablierung der anthroposophischen Einrichtungen, die sich - mit dem Übergang der noch mit dem Milieu des Wirkens Rudolf Steiners verbundenen Persönlichkeiten in die erste Nachkriegsgeneration - immer weitreichender vollzog. Diese Etablierungstendenz, d.h. insbesondere diese Hinwendung zu staatlicher Anerkennung (und Subventionierung) ist immer mehr zur bestimmenden Tendenz geworden – mit der die Grundlagenarbeit allerdings nicht Schritt gehalten hat. Denn durch dieses „Einnisten“ in die bestehenden Verhältnisse wurde die Anthroposophie selbst immer mehr verbürgerlicht und dadurch ihres Wissenschaftscharakters beraubt. Die ursprüngliche geistige Impulskraft hat sich somit in die Zweige „praktischer“ (angewandter) Anthroposophie ergossen, doch die eigentliche geistige „Humusbildung“ wurde nicht entsprechend geleistet. Dies zeigt sich beispielsweise im Verhältnis der enorm expandierten Waldorfschulbewegung zur zusehends verkümmernden Anthroposophischen Gesellschaft. D.h. die anthroposophische Bewegung ist zwar zu einem in immer weiteren Kreisen anerkannten Faktor der bürgerlichen Gesellschaft geworden (mittlerweile gibt es skurriler Weise ja sogar schon eine Professur für Eurythmie…) - doch ihre eigentliche Innovationskraft in wesentlichen Fragen der Gegenwart ging im Laufe dieser pragmatisierenden Tendenz fast unter. Diese Misere wird etwa in einem Interview mit dem ehemaligen deutschen Innenminister Otto Schily deutlich, der (immerhin als Verfasser eines Nachwortes zu Rudolf Steiners Schrift „Die Kernpunkte der sozialen Frage“) ehrlich bekennt: "Die schwierigste Frage ist eigentlich die - und ich bin in diesem Punkt noch zu keiner Antwort gekommen, das sage ich ihnen ganz ehrlich: Wie organisiert sich das autonome, selbstständige Kultur - und Geistesleben? Das ist die schwierigste Frage." (Zitiert aus: Das Goetheanum, Nr. 6 / 2007) Dieses ehrliche Bekenntnis macht exemplarisch deutlich: die Erbschaft ist aufgebraucht!

Deshalb ist es an der Zeit, sich einmal wirklich wieder an Rudolf Steiner zu erinnern:

„Hat diese Anthroposophische Gesellschaft in irgendeinem Staate je eine Staatssubvention gehabt? Sind ihre Lehrer von einem Staate angestellt? Ist nicht alles erfüllt gerade in dieser Anthroposophischen Gesellschaft, was nur zu erlangen ist von den äußeren Geistesorganisationen? Ist sie nicht in Bezug darauf geradezu das praktischste Ideal? [...] Nicht das kann unsre Aufgabe sein, hier das freie Geistesleben herein zutragen, sondern das kann die Aufgabe sein, dass Sie dasjenige, was hier als freies Geistesleben immer existiert hat, dass Sie das in die andere Welt hinaustragen, den Menschen klarmachen, dass alles Geistesleben von dieser Art sein muss, von dieser Art von Verfassung sein muss.“
(aus: Rudolf Steiner, GA 190, Vortrag vom 14. April 1919, S.)

Denn: „In dem einen der drei Glieder des sozialen Organismus strebt diese Idee ein Zusammenwirken von Menschen an, das ganz auf den freien Verkehr und die freie Vergesellschaftung von Individualität zu Individualität begründet ist. In keine vorbestimmte Einrichtung werden da die Individualitäten hineingezwängt. Wie sie einander stützen und fördern, das soll lediglich daraus sich ergeben, was der eine dem andern durch seine Fähigkeiten und Leistungen sein kann. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass sich viele Menschen gegenwärtig noch gar nichts anderes vorstellen können, als dass bei solch freier Gestaltung der menschlichen Verhältnisse im geistigen Gliede des sozialen Organismus nur anarchische Zustände innerhalb desselben sich ergeben müssten. Wer so denkt, der weiß eben nicht, welche Kräfte der innersten Menschennatur dadurch an ihrer Entfaltung verhindert werden, dass der Mensch in die Schablonen hinein entwickelt wird, die ihn vom Staats- oder Wirtschaftsleben aus formen.”
(aus: Rudolf Steiner, Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus, GA 24, S.71f)

Oder an Christian Morgenstern:

Wir wollen keine Politik
wir hassen diese Drachensaat;
wir wollen nur einen Sieg:
den über den Staat.

Oder an Wilhelm von Humboldt:

„Wie jeder sich selbst auf die sorgende Hilfe des Staats verlässt, so und noch weit mehr übergibt er ihr das Schicksal seines Mitbürgers. Dies aber schwächt die Teilnahme und macht zu gegenseitiger Hilfsleistung träger.“
(aus: Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Stgt. 2002, S. 34)

Oder?

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