beitragende | zeitplan | papier kkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkk blog






Wann ist heute?

Stefan Brotbeck

Philosophie gilt als eine schwierige, ja mühselige Angelegenheit. Sie ist es in der Tat. Aber sie ist nicht schwierig, weil sie abstrakt ist oder bevorzugt Elfenbeintürme bewohnt, sondern weil sie von Dingen spricht, die uns allen vertraut sind. Dinge aber, die uns allen vertraut sind, scheinen dafür prädestiniert zu sein, verschlafen zu werden. Wir übersehen das Offensichtliche, und das Selbstverständliche verstehen wir zuletzt. Philosophie ist eine Art geistige Augenkunde für die offenbaren Geheimnisse. Über das Außergewöhnliche und Mirakulöse kann jeder staunen. Über das Gewöhnliche, offen zu Tage Liegende nur Philosophen. – Und was gibt es Gewöhn-licheres als unseren Blick auf die Uhr.

Wir sehen, wie der Zeiger vorrückt. Wir sehen, wie es so schön heißt, die Zeit verstreichen. Das Nacheinander stellen wir uns als Nebeneinander auf einer Zeitlinie vor (die übrigens durchaus kreisförmig sein kann). Wir stellen uns das vor, zweifellos unterstützt durch den alltäglichen Blick auf die Uhr (Uhren sind Veränderungsmaßstäbe zur Zeitmessung) und durch den alltäglichen Blick in die Agenda (der Kalender repräsentiert das Nacheinander). Die zeitlichen Ereignisse erscheinen wie Perlen auf einer Kette (diese Kette mag offen oder geschlossen sein, eine Kette bleibt sie dennoch). Das ist das, was Steiner als Orientierung aus dem Räumlichen über die Zeit bezeichnet hat: ›Wir schließen vom Räumlichen auf die Zeit. Diese Art, sich ins Leben hineinzustellen, ist überhaupt unsere gewöhnliche geworden. (…) Aber nicht in der gleichen Weise erleben wir das innere Werden der Zeit.‹

Nun sprechen wir ohne Schwierigkeiten auch davon, dass ein Ereignis bereits zur Vergangenheit gehört und ein anderes Ereignis in der nahen oder fernen Zukunft liegt.

Ist das nicht alles klar, ja recht eigentlich banal? Nichts ist klar – und nichts ist banal.

Denn hier geht es um nichts Geringeres als um das Rätselmoment, dass es nur für ichbewußte Wesen Vergangenheit und Zukunft gibt. Nur für ichbewußte Wesen gliedert sich die lineare chronos-Zeit in die Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In einer rein physikalisch beschreibbaren Welt gibt es nur ein Früher, Gleichzeitig und Später, es herrscht nur die lineare Zeitordnung, die bloße Sukzession: In einer rein physikalisch beschreibbaren Welt gibt es nur Entitäten, die wie vier-dimensionale Würmer bestimmte Portionen der Raum-Zeit ausfüllen. Ein Individuum erscheint hier einfach als die Summe seiner zeitlichen Teile.

Diese Welt aber ist in einem denkbar nüchternen Sinne keine menschliche. Es ist eine Welt ohne Ge-stern und ohne Morgen, eine Welt ohne Vergangenheit und Zukunft.

Es ist eine Welt, in der nie ›heute‹ ist.

Doch Vorsicht! Ist da nicht eine Mystifikation im Gang? Zukunft ist doch das, was später ist als heute, und Vergangenheit ist doch das, was früher ist als heute. Was also soll das ganze Gerede von Ichwesen, die da eine Rolle spielen sollen?

Es bedarf nur eines etwas aufgeweckteren Blicks, um zu bemerken: ›Früher-später‹ kann – muß aber nicht – ›vergangen-zukünftig‹ meinen. Morgen ist später als heute, aber eben auch früher als übermorgen – beide aber liegen in der Zukunft. Gestern ist früher als jetzt, aber eben auch später als vorgestern – beide aber liegen in der Vergangenheit.

Wir machen uns Vorstellungen über das Nachein-ander, das Früher und Später – und übersehen, dass die Gegenwart jenes Andere der Zeit ist, die erst eigentlich die Zeit zur Zeit macht. Die Gegenwart (und die ebenso von der Gegenwart her wie auf die Gegenwart hin zu bestimmende Vergangenheit und Zukunft) ist das Andere der Zeit, welches nicht metaphysische Zeitlosigkeit meint, sondern Ursprung der Zeit selbst.

Dürfen wir also bei der Gegenwart überhaupt von einem Zeitabschnitt reden? Werden wir hier nicht Gefangene eines Bildes – Gefangene einer falschen Vorstellung? – Bringen wir die Zeit zur Strecke, indem wir das Andere der Zeit ›chronifizieren‹, – womöglich noch, dass wir die Gegenwart in einem in Milliardestelsekunden filigranisierten ›Jetzt‹-Atömchen zu erhaschen suchen?

Gegenwart ist kein neutraler Punkt innerhalb einer Sukzessionsreihe, sondern vielmehr Quellpunkt der Zeit. Dieser Quellpunkt aber ist der wunde Punkt aller Metaphysik und Antimetaphysik. Sie beide haben keine Augen und bilden keinen ›Körper‹ für die Gegenwart, die nicht von dieser Welt ist – und zugleich auf eine unendlich intimere Weise auf diese Welt bezogen ist, als es sich alle Zeitlosigkeits- und Zeitlichkeitsapostel zu träumen vermöchten… ‹

Ich bin an der Zeit

Benjamin Kolass

Wer sonst sollte es sein? Ja, auch du, aber dann ist‘s an dir, dies zu sagen!
Von Kindheit an bin ich an der Zeit. Damals öffnete ich morgens die Augen und begann die Welt um mich zu erobern. Die Zimmer im Haus, den Garten, die Strassen im Dorf, den Schulunterricht, überall, wo ich war, war ich an der Zeit. Denn ich war dabei, in den Ereignissen um mich. Auch meine Eltern, die meinen Rhythmus bestimmten, gehörten dazu. Sie waren Teil meiner Welt, wie das Bimmeln der Schulglocke oder das läuten des Kirchturms.
Das änderte sich vor meinem 11. Geburtstag. Im Schaufenster sah ich eine Armbanduhr und sofort war mein Wunsch klar. Die Uhr war ganz aus Me-tall, schlicht, mit leicht rot kariertem Ziffernblatt. Sekunden zeigte sie nicht, die gehörten ins Reich der schneller-weiter-höher-Fanatiker. Nur einmal pro Minute rückte der längere Zeiger voran und nahm den kürzeren ein Stück mit.
Nun hatte auch ich die objektive Zeit bei mir und begann, meine Zeit zu ordnen und zu bestimmen. Ich glaubte mich im Einklang mit allen anderen. Wohin ich kam, alle Uhren zeigten die selben Stunden und Minuten.
Dann kamen Handy, Laptop und Internet, und mit ihnen verschwand meine Uhr in der Schublade.Mein Handy zeigte auch die Zeit, und warum sie doppelt mit mir tragen? Noch wichtiger: Ich brauchte mich nicht mehr auf die Minute genau verabreden. Ich konnte anrufen, wenn ich da war. – War das Faulheit? Oder die Emanzipation von einer mit Stress durchzogenen Terminkalenderralley?
Ich fühlte mich jedenfalls frei und entspannt, wenn ich mein Studien- und Arbeitsleben so einrichten konnte, dass die Stundentaktung, die mir seit der Schulzeit durch meine und andere Uhren gegeben worden war, verschwand. Ich lebte fast zeitlos, nicht mal die Ziffern auf dem Handy interessierten mich mehr.
Inmitten dieser Zeitlosigkeit entdeckte ich eine neue Dimension. Scheinbar gab es Momente, in denen mir etwas zu fiel. Ein Gedanke, eine Begegnung, ein Buch. Etwas, das ich gesucht hatte, doch niemals systematisch durch ein Studium in Zeitkontingenten, bei der Arbeit mit der Stechuhr oder durch exakte Verabredung erreichte.
Zufall? Oder eine neue Form der Zeit, in die ich eingetaucht war? Vielleicht. Jedenfalls funktionierte diese Dimension nicht immer. Und nicht mit allen Menschen. Manche pochten auf pünktliches Erscheinen zum Termin, behielten ihre festen Arbeitszeiten genauso wie ihre feste FreiZeit. Andere waren immer zur rechten Zeit am rechten Ort, stets erreichbar und offen für das, was anstand. Um ihnen zu begegnen, verwandelte ich die Zeit, den Termin, in bestimmte Orte, an denen es wahrscheinlich war, sie dort anzutreffen. Oder die zufällige Begegnung an einem Ort bestimmte, dass jetzt die Zeit zum Austausch, zum Termin, gekommen war.
Was bedeutete das für mich? permanentes Warten auf Zufälle? Doch sie kamen meist dann, wenn ich nicht auf sie wartete, wenn ich sie nicht erwartete. Was konnte ich tun, um ihnen zu begegnen? Ich stellte fest, dass eine Verbindung zu den grundsätzlicheren Fragen in mir bestand. Nur war mir nicht immer bewusst, woher die Antwort tatsächlich kam. Doch ich konnte die Fragen anreichern, sie bewegen, erweitern, vertiefen. Und ich brauchte Empfindungsvermögen für Momente, für Orte, an denen die Zeit reif war. Aber die wichtigste Voraussetzung dafür war, dass ich in mir bin.
Ich bin an der Zeit, wenn ich all die Minuten meines Lebens da bin, mich für etwas begeistere, Verantwortung trage. Die Minuten gehören mir - sowie allen anderen - wenn ich in mir spüre, dass ich ihre Weiterentwicklung, ihr Potential sehe. Und ihre Ursachen in der Vergangenheit verstehe.
Dort am Fliessband der Maschine war ich nicht an der Zeit. Die Maschine bestimmte den Takt, den Ablauf der Handgriffe, immer gleich und ausserhalb von mir. Wie die Stechuhr, die meine Arbeitsstunden dokumentierte.
Bin ich an der Zeit, bestimme ich sie, flexibel, kreativ, phantasievoll, mit all diesen menschlichen Fähigkeiten. Durch mich dehnt oder verkürzt sich dann die Zeit, scheinbar relativ.
Ich bin an der Zeit, wenn ich an mir bin, ein Erlebnis von dem habe, was mein Beitrag zum grossen Ganzen ist, wenn ich meine Verbindung zur Welt erlebe. Dafür gibt es keine Gebrauchsanweisung, keine Schulung. Denn die Zeit ist kein System, dem ich mich anpassen kann. Sehe ich sie als System, muss ich mich unterwerfen oder sie mit Macht übernehmen. Könnte man sagen, es gibt ein inneres Gehör, durch das ich an die Zeit, an mich lauschen kann? Ich lege die Uhren zur Seite und wende den Blick nach innen, nach aussen. ‹

Eindeutigkeit

Philipp Tok

Du beginnst zu lesen. Ich habe den Stift in Bewegung gebracht. – Vor dem Anfang war das Vergessen. Um zum Ende zu kommen, werde ich mich dem Erinnern widmen.

Peter Sloterdijk teilcharakterisiert die Persönlichkeit von Jacques Derrida mit den Worten ›Seine Bahn war bestimmt von der immer wachen Sorge, auf eine bestimmte Identität festgelegt zu werden…‹ Ich lese und finde mich wieder. Vor drei Monaten hätte ich gern aus einem reissenden Willensstrom geantwortet, an der Zeit ist:

1. Eine menschliche, inhaltsvolle Wissenschaft, die eine neue Verbindung mit der Welt ermöglicht, eine neue Liebe zur Welt eröffnet. Universell, individuell, jenseits äusserer Autoritäten.

2. Eine neue kulturelle Identität. Gefragt sind innerlich bewegliche wie umfassende Identitäten, die sich lösen aus der Tradition äusserer feststehender Gesichtspunkte. Identitäten, die das individuelle Gestelltsein vermitteln mit der globalen Zivilisation.

3. Eine Anschauungsweise, die sich weder am Stoff noch an der Idee orientiert, als vielmehr in alles untertaucht und in allem bildet.

4. Das Verständnis, dass Arbeit heute als Medium begriffen werden muss, in dem etwas zur Erscheinung und Verwirklichung kommen will, was jenseits des offenbaren und scheinbaren Zweckes der Form der Arbeit anzusiedeln ist. Arbeit als Identität hat abgewirtschaftet.

Zusammenfassung: Das Ende der Eindeutigkeit ist an der Zeit.

Damit ist eine Position angedeutet, die meine innere Verfassung spiegelt. Doch mir wurde die Frage neu zur Frage. ›Was ist an der Zeit?‹ – Der Willensstrom versiegte im Spätsommer. Worauf zielt die Frage? Was spricht sie selber aus? Was erwarten wir von der Antwort? – Ich wende mich an Goethes Märchen, dem Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie. Hier spricht die abstrakte Frage als füllige Antwort. Hier könnte etwas von ihrem Wesen sichtbar werden.

›Die Zukunft liegt in den Archiven.‹ Auf die Erfüllung einer alten Weissagung lässt Goethe seinen alten Mann mit der Lampe hinweisen, indem er ihm das Wort ›Es ist an der Zeit‹ in den Mund legt. Die Weissagung: Eine Brücke wird die beiden Ufer des Flusses miteinander verbinden, eine mächtige Brücke. ›Pferde und Wagen und Reisende aller Art sollen zu gleicher Zeit über die Brücke her-über und hinüber wandern. Ist nicht von den großen Pfeilern geweissagt, die aus dem Flusse selbst heraussteigen werden?‹ Am Ufer wird ein Tempel stehen. Ebenso beinhaltet die Weissagung Hinweise auf die Zeichen, unter denen die Erfüllung stehen wird. Drei mal wird die Lilie an einem Tag das Wort zu hören bekommen, dann ist es soweit. ›Es ist an der Zeit.‹

Die Magie der Aussage liegt in ihrer Qualität aktuell vergehender, sich erfüllender Zukunft. Alle Zeitelemente nimmt der Satz in sich auf. Er verkündet die Erfüllung einer langersehnten, zurückliegenden Voraussage in der gegenwärtigen Zukunft. Die Aussage ist ein Zeitspiel. Das Bewusstsein wird von diesem Spiel in eine Steigerung getrieben. Alle Zeiten fliessen ineinander. Die ganze Welt, von Anfang bis Ende, versammelt sich in der Gegenwart.

Vergangene Zukunft
Gegenwärtige Zukunft
Zukünftige Zukunft

Zukünftige Gegenwart
Vergangene Gegenwart
Gegenwärtige Gegenwart

Gegenwärtige Vergangenheit
Zukünftige Vergangenheit
Vergangene Vergangenheit

Die so erzeugte Gegenwart des Lesers hebt sich aus der ernüchterten Vorstellung eines ablaufenden Zeitstroms. Alles ist sinnhaft verwoben, von Anfang bis Ende. Jedes eintretende Unglück erfährt innerhalb des Märchens Verglückung. – Das Bild der Brücke lässt sich auf die Aussage ›Es ist an der Zeit‹ rückanwenden. Sie selbst ist der ›Bogen‹, die sinnvolle Verbindung aller voneinander getrennt erscheinenden Ereignisse und Orte.

Goethe verweist mit seiner Haltung, die Frage nicht aufzuwerfen, sondern sie ausschliesslich zu beantworten, auf ein Geheimnis, das in der Frage Widerstand desjenigen wird, der sie versucht zu beantwor-ten. Das an der Zeit sein ist eine Tat. Das Sagen, was an der Zeit ist, ist eine Gewalt. Welcher Instanz gestehen wir zu, über diese Frage zu entscheiden? – ›Es ist an der Zeit.‹ ist eine Weltaussage, die in Form des Märchens unsere empfänglichen Gefühle anspricht. Würde Goethe vor seine Zeitgenossen hingetreten sein und ihnen angesagt haben, wie spät es ist, hätte er wohl kaum mehr als den Eigensinn der Angesprochenen herausgefordert. In den Bildern des Märchens können wir uns einigen. Sie lassen uns frei.

Schauen wir aufgrund dieser Betrachtung erneut auf die Frage ›Was ist an der Zeit?‹, erscheint sie als dunkel und eigenartig. In ihr fehlt die Brücke. Das ›Es‹, das umfassende, einhüllende Wesen, die unsichtbare Autorität, die die Geschicke gestaltet. Wir sind zurückgeworfen auf unseren mageren Verstand, in dem das ›Was‹ herrscht. Uns fehlt der Gehalt einer Vorhersage, die an die Zeit tritt. Umgewendet will die Frage von der Zeit ausgehend auf ein Ereignis schliessen, das eintreten soll. Ein unmögliches Unterfangen?

Jeder Versuch, die Frage zu beantworten, verweist auf die eigene Verfassung, die eigene Fähigkeit. Was für mich ansteht, vermag meine Phantasie auszuspüren. Die Frage ›Was ist an der Zeit?‹ ist jedoch nicht die Frage ›Was ist für mich dran?‹ Ihr Kern, Reiz und ungreifbarer Sinn liegt in ihrer allgemeinen Formulierung. – Reicht meine Phantasie aus, um eine allgemeine Antwort, das heisst eine für die ganze Welt zu geben? Kann ich die unsichtbar waltende Autorität und den Alten mit der Lampe in mir vereinen? Über das Gegebene hinausgehen? Das Ganze sinnhaft fügen?

Treten wir zurück von der Phantasie, die von der Frage gefordert ist, in die Vernunft. Können wir benennen, wo die heiklen, die pontentiellen Themen der Gegenwart liegen, die den Bogen neu spannen könnten? Die Frage fragt nicht nach einer ewigen Antwort, die vor einhundert Jahren ebenso aktuell wie in einhundert Jahren gewesen wäre. Doch soll sie den Charakter des Ewigen, des Sich-sinnvoll-aufeinander-Beziehens aller gegebenen Elemente bergen.

Was sind die gegebenen Elemente? – Die Welt ist zerfallen in Subsubsubkulturen, Individualitäten, gefangen im Unwissen um ihre eigenen Voraussetzungen. Jenseits des individuellen Bewusstseins vollzieht sich das Weltenschicksal. Wir stehen in jener Zeit, in der das Subjekt zum Herren einer objekthaften Welt geworden ist. Das Subjekt verfolgt halbwach die Erschaffung von möglichst unbegrenzt schmerzfreiem Glück. Der berechnende Verstand steht in Kulmination mit den unveredelten Instinkten. Nennen wir es kurz das Komfortglück. Eine gewaltige Kraft. Innerhalb weniger hundert Jahre gestaltete
sie fast die gesamte Erdoberfläche samt menschlicher Lebenswelt um. – Welche Idee kann sich einer solchen Gestaltungskraft rühmen? Doch erschöpft sich das Weltgeschehen in dem so gewonnenem Status? An einem Ufer stehen die vereinzelten, orientierungslosen, doch selbstverwirklichenden Subjekte. Am anderen Ufer steht eine tote, objekthafte Welt, die Welt der Maschine, der Mechanismen, der Funktionen.

Was hätte die Kraft, eine neue Brücke zu schlagen? Die Objekte zu subjektivieren. – ›Ist es nicht das Telefon, das sich für mich interessiert?‹ – Das Individualisierte dem Ganzen neu einzuverleiben? Was wär heute eine Wissenschaft, die sich nicht um ein Teilgebiet, sondern um das Gesamtgebiet bemüht?

›Endlich ahnen, nicht immer wissen‹ hat ein Engel im ›Himmel über Berlin‹ gesagt. – Wir suchen einen Vorgang. Das, was vor der Erkenntnis liegt.Heisst das Zauberwort Identifizieren? Untertauchen in die Welt der Erscheinungen, in die Welt der Taten, in die Welt der Identitäten? Die Einseitigkeiten aufeinander loslassen? Das Getrennte in den eigenen Zusammenhang verweben? Das Verhangene differenzieren?

Am Ende von Goethes Märchen erstarrt der tapsige Riese in einem Kreis aus Bildern. Der Riese verkörpert den Rausch, der Bilderkreis das Weltenschicksal. Zusammen bilden sie auf dem Vorplatz des Tempels eine gewaltige Uhr. Vom Schatten des Riesen wird gesagt, dass er alles vermag, im Gegensatz zu seinem Leib, der keinen Strohhalm zu heben vermag. Dieser Schatten taucht nun unter in die Bilder. Er wird zu einem Zeiger. Jenem Zeiger, der sagt, was an der Zeit ist. Er weist auf Bilder, auf Vorgänge, die in die Zeit treten.

Gerade war ich in Berlin auf dem Festival ›9to5 – Wir nennen es Arbeit‹. Die selbsternannte ›digitale Bohème‹ traf sich drei Tage und Nächte zum Leben und Arbeiten. Der alte Arbeitstag von 9 Uhr Vormittag bis 17 Uhr wurde hier umgedreht, von 21 Uhr bis 5 Uhr am Morgen gab es Konzerte, Lesungen und Seminare. Hier standen Fragen im Zentrum wie ›Was wäre ein linker Neo-Liberalismus?‹ Vier Uhr am Morgen sitze ich am Rand des tanzenden Konzertsaals und setze Texte. – Das Spiel der Identitäten ist eröffnet.

Vergessen? Derrida erscheint am Horizont unter der glühenden Sonne ›Als ob das Ende der Arbeit am Ursprung der Welt stünde.‹ – Ich werde den Stift bei-seite legen. Du hörst auf zu lesen. ‹



Peter Sloterdijk – Derrida, ein Ägypter, Suhrkamp 2007; Johann Wolfgang Goethe – Das Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie, Die Horen 1795; Wim Wenders und Peter Handke – Der Himmel über Berlin, Road Movies Filmproduktion/Argos Films 1987. Jacques Derrida – Die unbedingte Universität, Suhrkamp 2001.

Ich werfe meine Kleider ab

1. William Shakespeare

Die Zeit ist aus den Fugen: Fluch und Gram,
Daß, ich zur Welt sie einzurichten, kam.
(Hamlet)


2. Heiner Müller

Ich stehe zwischen Männern, die mir unbekannt sind, in einem alten Fahrstuhl mit während des Aufstiegs klapperndem Metallgestänge. Ich bin gekleidet wie ein Angestellter oder wie ein Arbeiter am Feiertag. Ich habe mir sogar einen Schlips umgebunden, der Kragen scheuert am Hals, ich schwitze. Wenn ich den Kopf bewege, schnürt mir der Kragen den Hals ein. Ich habe einen Termin beim Chef (in Gedanken nenne ich ihn Nummer Eins), sein Büro ist in der vierten Etage, oder war es die zwanzigste; kaum denke ich darüber nach, schon bin ich nicht mehr sicher. Die Nachricht von meinem Termin beim Chef (den ich in Gedanken Nummer Eins nenne) hat mich im Kellergeschoß erreicht, einem ausgedehnten Areal mit leeren Betonkammern und Hinweisschildern für den Bombenschutz. Ich nehme an, es geht um einen Auftrag, der mit erteilt werden soll. Ich prüfe den Sitz meiner Krawatte und ziehe den Knoten fest. Ich hätte gern einen Spiegel, damit ich den Sitz der Krawatte auch mit den Augen prüfen kann. Unmöglich, einen Fremden zu fragen, wie dein Schlipsknoten sitzt. Die Krawatten der andern Männer im Fahrstuhl sitzen fehlerfrei. Einige von ihnen scheinen miteinander bekannt zu sein. Sie reden leise über etwas, wovon ich nichts verstehe. Immerhin muß ihr Gespräch mich abgelenkt haben: beim nächsten Halt lese ich auf dem Etagenanzeiger über der Fahrstuhltür mit Schrecken die Zahl Acht. Ich bin zu weit gefahren oder ich habe mehr als die Hälfte der Strecke noch vor mir. Entscheidend ist der Zeitfaktor. FÜNF MINUTEN VOR DER ZEIT / IST DIE WAHRE PÜNKTLICHKEIT. Als ich das letztemal auf meine Armbanduhr geblickt habe, zeigte sie Zehn. Ich erinnere mich an mein Gefühl der Erleichterung: noch fünfzehn Minuten bis zu meinem Termin beim Chef. Beim nächsten Blick war es nur fünf Minuten später. Als ich jetzt, zwischen der achten und neunten Etage, wieder auf meine Uhr sehe, zeigt sie genau vierzehn Minuten und fünfundvierzig Sekunden nach der zehnten Stunde an: mit der wahren Pünktlichkeit ist es vorbei, die Zeit arbeitet nicht mehr für mich. Schnell überdenke ich meine Lage: ich kann beim nächsten möglichen Halt aussteigen und die Treppe hinunterlaufen, drei Stufen auf einmal, bis zur vierten Etage. Wenn es die falsche Etage ist, bedeutet das natürlich einen vielleicht uneinholbaren Zeitverlust. Ich kann bis zur zwanzigsten Etage weiterfahren und, wenn sich das Büro des Chefs dort nicht befindet, zurück in die vierte Etage, vorausgesetzt der Fahrstuhl fällt nicht aus, oder die Treppe hinunterlaufen (drei Stufen auf einmal), wobei ich mir die Beine brechen kann oder den Hals, gerade weil ich es eilig habe. Ich sehe mich schon auf einer Bahre ausgestreckt, die auf meinen Wunsch in das Büro des Chefs getragen und vor seinem Schreibtisch aufgestellt wird, immer noch dienstbereit, aber nicht mehr tauglich. Vorläufig spitzt sich alles auf die durch meine Fahrlässigkeit im voraus nicht beantwortbare Frage zu, in welcher Etage der Chef (den ich in Gedanken Nummer Eins nenne) mit einem wichtigen Auftrag auf mich wartet. (Es muß ein wichtiger Auftrag sein, warum sonst läßt er ihn nicht durch einen Untergebenen erteilen.) Ein schneller Blick auf die Uhr klärt mich unwiderlegbar über die Tatsache auf, daß es auch für die einfache Pünktlichkeit seit langem zu spät ist, obwohl unser Fahrstuhl, wie beim zweiten Blick zu sehn, die zwölfte Etage noch nicht erreicht hat: der Stundenzeiger steht auf Zehn, der Minutenzeiger auf Fünfzig, auf die Sekunden kommt es schon länger nicht mehr an. Mit meiner Uhr scheint etwas nicht zu stimmen, aber auch für einen Zeitvergleich ist keine Zeit mehr: ich bin, ohne daß ich bemerkt habe, wo die andern Herren ausgestiegen sind, allein im Fahrstuhl. Mit einem Grauen, das in meine Haarwurzeln greift, sehe ich auf meiner Uhr, von der ich den Blick jetzt nicht mehr losreißen kann, die Zeiger mit zunehmender Geschwindigkeit das Zifferblatt umkreisen, so daß zwischen Lidschlag und Lidschlag immer mehr Stunden vergehn. Mir wird klar, daß schon lange etwas nicht gestimmt hat: mit meiner Uhr, mit diesem Fahrstuhl, mit der Zeit. Ich verfalle auf wilde Spekulationen: die Schwerkraft läßt nach, eine Störung, eine Art Stottern der Erdrotation, wie ein Wadenkrampf beim Fußball. Ich bedaure, daß ich von Physik zu wenig weiß, um den schreienden Widerspruch zwischen der Geschwindigkeit des Fahrstuhls und dem Zeitablauf, den meine Uhr anzeigt, in Wissenschaft auflösen zu können. Warum habe ich in der Schule nicht aufgepaßt. Oder die falschen Bücher gelesen: Poesie statt Physik. Die Zeit ist aus den Fugen und irgendwo in der vierten oder in der zwanzigsten Etage (das Oder schneidet wie ein Messer durch mein fahrlässiges Gehirn) wartet in einem wahrscheinlich weitläufigen und mit einem schweren Teppich ausgelegten Raum hinter seinem Schreibtisch, der wahrscheinlich an der hinteren Schmalseite des Raumes dem Eingang gegenüber aufgestellt ist, mit meinem Auftrag der Chef (den ich in Gedanken Nummer Eins nenne) auf mich Versager. Vielleicht geht die Welt aus dem Leim und mein Auftrag, der so wichtig war, daß ihn der Chef mir in Person erteilen wollte, ist schon sinnlos geworden durch meine Fahrlässigkeit. GEGENSTANDSLOS in der Sprache der Ämter, die ich so gut gelernt habe (überflüssige Wissenschaft!), BEI DEN AKTEN, die niemand mehr einsehen wird, weil er gerade die letzte mögliche Maßnahme gegen den Untergang betraf, dessen Beginn ich jetzt erlebe, eingesperrt in diesen verrückt gewordenen Fahrstuhl mit meiner verrückt gewordenen Armbanduhr. Verzweifelter Traum im Traum: ich habe die Fähigkeit, einfach indem ich mich zusammenrolle, meinen Körper in ein Geschoß zu verwandeln, das die Decke des Fahrstuhls durchschlagend die Zeit überholt. Kaltes Erwachen im langsamen Fahrstuhl zum Blick auf die rasende Uhr. Ich stelle mir die Verzweiflung von Nummer Eins vor. Seinen Selbstmord. Sein Kopf, dessen Porträt alle Amtsstuben ziert, auf dem Schreibtisch. Blut aus einem schwarzrandigen Loch in der (wahrscheinlich rechten) Schläfe. Ich habe keinen Schuß gehört, aber das beweist nichts, die Wände seines Büros sind natürlich schalldicht, mit Zwischenfällen ist beim Bau gerechnet worden und was im Büro des Chefs geschieht, geht die Bevölkerung nichts an, die Macht ist einsam. Ich verlasse den Fahrstuhl beim nächsten Halt und stehe ohne Auftrag, den nicht mehr gebrauchten Schlips immer noch lächerlich unter mein Kinn gebunden, auf einer Dorfstraße in Peru. Trockener Schlamm mit Fahrspuren. Auf beiden Seiten der Straße greift eine kahle Ebene mit seltenen Grasnarben und Flecken von grauem Gebüsch undeutlich nach dem Horizont, über dem ein Gebirge im Dunst schwimmt. Links von der Straße ein Barackenbau, er sieht verlassen aus, die Fenster schwarze Löcher mit Glasresten. Vor einer Plakatwand mit Reklamen für Produkte einer fremden Zivilisation stehen zwei riesige Einwohner. Von ihren Rücken geht eine Drohung aus. Ich überlege, ob ich zurückgehen soll, noch bin ich nicht gesehen worden. Nie hätte ich gedacht, während meines verzweifelten Aufstiegs zum Chef, daß ich Heimweh nach dem Fahrstuhl empfinden könnte, der mein Gefängnis war. Wie soll ich meine Gegenwart in diesem Niemandsland erklären. Ich habe keinen Fallschirm vorzuweisen, kein Flugzeug oder Autowrack. Wer kann mir glauben, daß ich aus einem Fahrstuhl nach Peru gelangt bin, vor und hinter mir die Straße, von der Ebene flankiert, die nach dem Horizont greift. Wie soll überhaupt eine Verständigung möglich sein, ich kenne die Sprache dieses Landes nicht, ich könnte genausogut taubstumm sein. Besser ich wäre taubstumm: vielleicht gibt es Mitleid in Peru. Mir bleibt nur die Flucht ins hoffentlich Menschenleere, vielleicht vor einem Tod in einen andern, aber ich ziehe den Hunger dem Messer des Mörders vor. Mittellos mich freizukaufen bin ich in jedem Fall, mit meiner geringen Barschaft in der fremden Währung. Nicht einmal im Dienst zu sterben ist mir vom Schicksal vergönnt, meine Sache ist eine verlorene Sache, Angestellter eines gestorbenen Chefs der ich bin, mein Auftrag beschlossen in seinem Gehirn, das nichts mehr herausgibt, bis die Tresore der Ewigkeit geöffnet werden, um deren Kombination die Weisen der Welt sich abmühn, auf dieser Seite des Todes. Hoffentlich nicht zu spät löse ich meinen Schlipsknoten, dessen korrekter Sitz mich so viel Schweiß gekostet hat auf meinem Weg zum Chef, und lasse das auffällige Kleidungsstück in meiner Jacke verschwinden. Beinahe hätte ich es weggeworfen, eine Spur. Im Umdrehn sehe ich zum ersten mal das Dorf; Lehm und Stroh, durch eine offne Tür eine Hängematte. Kalter Schweiß bei dem Gedanken, ich könnte von dort aus beobachtet worden sein, aber ich kann kein Zeichen von Leben ausmachen, das einzig Bewegte ein Hund, der in einem qualmenden Müllhaufen wühlt. Ich habe zu lange gezögert: die Männer lösen sich von der Plakatwand und kommen schräg über die Straße auf mich zu, zunächst ohne mich anzusehn. Ich sehe die Gesichter über mir, undeutlich schwarz das eine, die Augen weiß, der Blick nicht auszumachen: die Augen sind ohne Pupillen. Der Kopf des andern ist aus grauem Silber. Ein langer ruhiger Blick aus Augen, deren Farbe ich nicht bestimmen kann, etwas Rotes schimmert darin. Durch die Finger der schwer herabhängenden rechten Hand, die ebenfalls aus Silber zu bestehen scheint, läuft ein Zucken, die Blutbahnen leuchten aus dem Metall. Der Silberne geht hinter mir vorbei dem Schwarzen nach. Meine Angst verfliegt und macht einer Enttäuschung Platz: bin ich nicht einmal ein Messer wert oder den Würgegriff von Händen aus Metall. Lag in dem ruhigen Blick, der fünf Schritte lang auf mich gerichtet war, nicht etwas wie Verachtung. Worin besteht mein Verbrechen. Die Welt ist nicht untergegangen, vorausgesetzt, das hier ist keine andre Welt. Wie erfüllt man einen unbekannten Auftrag. Was kann mein Auftrag sein in dieser wüsten Gegend jenseits der Zivilisation. Wie soll der Angestellte wissen, was im Kopf des Chefs vorgeht. Keine Wissenschaft der Welt wird meinen verlorenen Auftrag aus den Hirnfasern des Verewigten zerrn. Mit ihm wird er begraben, das Staatsbegräbnis, das vielleicht jetzt schon seinen Gang nimmt, garantiert die Auferstehung nicht. Etwas wie Heiterkeit breitet sich in mir aus, ich nehme die Jacke über den Arm und knöpfe das Hemd auf: mein Gang ist ein Spaziergang. Vor mir läuft der Hund über die Straße, eine Hand quer in der Schnauze, die Finger sind mir zugekehrt, sie sehn verbrannt aus. Mit einer Drohung, die nicht mich meint, kreuzen junge Männer meinen Weg. Wo die Straße in die Ebene ausläuft, steht in einer Haltung, als ob sie auf mich gewartet hat, eine Frau. Ich strecke die Arme nach ihr aus, wie lange haben sie keine Frau berührt, und höre eine Männerstimme sagen DIESE FRAU IST DIE FRAU EINES MANNES. Der Ton ist endgültig und ich gehe weiter. Als ich mich umsehe, streckt die Frau die Arme nach mir aus und entblößt ihre Brüste. Auf einem grasüberwachsenen Bahndamm basteln zwei Knaben an einer Kreuzung aus Dampfmaschine und Lokomotive herum, die auf einem abgebrochenen Gleis steht. Ich Europäer sehe mit dem ersten Blick, daß ihre Mühe verloren ist: dieses Fahrzeug wird sich nicht bewegen, aber ich sage es den Kindern nicht, Arbeit ist Hoffnung, und gehe weiter in die Landschaft, die keine andere Arbeit hat als auf das Verschwinden des Menschen zu warten. Ich weiß jetzt meine Bestimmung. Ich werfe meine Kleider ab, auf das Äußere kommt es nicht mehr an. Irgendwann wird DER ANDERE mir entgegen kommen, der Antipode, der Doppelgänger mit meinem Gesicht aus Schnee. Einer von uns wird überleben.

Ausschnitt aus ›Der Auftrag‹ (Der Mann im Fahrstuhl)
aus: Heiner Müller: Revolutionsstücke. (Hrsg.) Uwe Wittstock. Stuttgart, 1988.

Eingereicht von Sascha Scholz

Furche

Friedrich Schiller

›Eil, in die Furche der Zeit, Gedanken und Thaten zu Streun,
Die von der Weisheit gesät, still für die Ewigkeit Blühn.‹


Diese Worte stehen im Garten von Georg Göschen, Schillers Verleger des Don Carlos, auf einem Gedenkstein für Seume, in Grimma.

Eingereicht von Fabian Roschka

Ursprung

Stefan Brotbeck

An der Zeit ist die Erkenntnis für das Andere der Zeit. Das Andere der Zeit meint nicht metaphysische Zeitlosigkeit, sondern den Ursprung der Zeit selbst.

Avenir

Johannes Nilo

Gälte der Blick der unmittelbaren Gegenwart mit ihrer Vielfalt an Formen, wäre die Frage ›wo stehen wir heute?‹ angemessener als die etwas sonderbare Formulierung ›was ist an der Zeit?‹ Oder ›was ist zeitgemäß?‹, ›was ist in?‹, ›was ist modern?‹, die alle nach dem Unmittelbaren fragen, nach dem, was in der Zeit ist. Die Perspektive ist hier offensichtlich eine andere. Die Antwort ist nicht unmittelbar in den Erscheinungen der Gegenwart zu suchen. Nicht der Ist-Stand der Gegenwart gibt uns die Antwort an die Hand. Der Blick gilt vielmehr der Zukunft. Aber auch diese muss genauer angeschaut werden.
Wir können uns eine Zukunft, die eine reine, mechanische Fortsetzung der Vergangenheit, d. h. eine kaschierte Vergangenheit, darstellt, vorstellen. Jacques Derrida macht genau diese Beobachtung einer absehbaren Zukunft und legt eine zweite, man könnte sagen eine ›reine‹ Form von Zukunft frei: ›Ich bevorzuge das Wort ›Avenir‹, das Kommende, die zukünftige Zeit, denn es bezieht sich auf jemanden oder etwas, das kommt und das in seiner Ankunft nicht vorhersehbar ist. Für mich ist das die wahre Zukunft. Das Unvorhersehbare. Das oder der Andere kommt, ohne dass ich es oder ihn erwarte. Wenn es also eine wahre Zukunft jenseits der Zukunft gibt, dann ist es die zukünftige Zeit im Sinne des Kommens des Anderen, und zwar dann, wenn ich es nicht vorhersehen kann.‹
Hervorheben möchte ich die Haltung Derridas dem Kommenden gegenüber; mit dem Anderen rechnen, ohne ihn durch einen analytischen Zugriff bestimmen zu wünschen. Dadurch öffnet sich ein Möglichkeitsraum der Zeit, der die Gegenwart in ein anderes Licht stellt. Ausgehend von dieser Perspektive bekommt die Frage ›wo stehen wir heute?‹ ihren Sinn aus der Frage ›was ist an der Zeit?‹ Die Frage so zu stellen, ermöglicht eine Befreiung der Gegenwart aus dem Bann der Mechanik der unaufhaltsam fort spinnenden, rastlosen Zeit.
Damit ist schon ein weiterer Aspekt der Frage angedeutet, nämlich der aktivistische. Wir haben keinen analytischen Zugriff auf das Kommende, jeder Versuch, etwas zu fixieren, wird deshalb einen synthetischen Charakter tragen. Die Frage ›was ist an der Zeit?‹ fordert eine Entscheidung, was sein soll, eine Setzung, die aus der Gegenwart selbst nicht ableitbar ist.
In diesem Sinne soll die Tagung einen Möglichkeitsraum der Zeit aktivieren, dem Anderen einen Raum geben, auf das Kommende hören und letztlich Initiativen der Einzelnen stimulieren.
Das Schwarze Telefon, welches als Logo für die Tagung dient, drückt die Ambivalenz von Gelassenheit und Aufforderung, von Hellhörigkeit und Initiative aus. Auf das Kommende einerseits hören und andererseits selber etwas In-die-Zeit-Setzen. Wird das Telefon klingeln, d. h. soll ich mich hinsetzen und warten, bis jemand mich anruft oder soll ich anrufen?
Warten oder Initiative ergreifen? Ich glaube beides. Wir haben keine Verfügungsgewalt über die Zeit und doch sind wir deren Initiatoren. Kennen wir die Methode? Wissen wir, wie wir vorgehen sollen? Gibt es ein Telefonbuch, wo wir die Nummer nachschlagen können, wissen wir überhaupt, wen wir anrufen wollen? Mit wem möchte ich sprechen? ‹

S-Bahnparabel

naDine Raffler

Ich sitze
In der S-Bahn und
Bilde einen Eckpunkt
Der Ebene des Jetzt’.
Die anderen
Eckpunkte der Ebene
Sind entweder unendlich
Weit entfernt oder unendlich
Nah. Jedenfalls ist mir nur ein Punkt
Dieser Ebene bekannt:
Ich.

Mein Auge
Blickt aus dem
Fenster,
Die andere Seite der Bahn
Ist mir unbekannt, existiert
Sie überhaupt noch?
Ich vergesse sie.
Meine Zeit grenzt
Sie aus, ich bin das Ende.
Und der Anfang zugleich.

Mein Auge
Beobachtet die
Vorbeiziehenden Dörfer.
Ich sitze
Entgegen der Fahrtrichtung und
Erblicke das Vergangene.

Dorf um
Dorf,
Hügel um
Hügel,
Wie schnell
Sie doch fort sind.

Kurz
Ist ihr Weg
Durch die Ebene,
Deren anfänglichen und
Beendenden Eckpunkt
Ich
Bilde.
Lang
Ist der Raum
Dahinter.
Immer weiter erkunden sie
Diesen Raum.
Weg.
Immer weiter.
Fort
Für immer.

Im Blick
Habe ich die
Anzeigentafel
der Bahn.
Nächster Halt:
Mammendorf.

Wie gut,
Bald wieder zu
Hause zu sein.

Wie schön,
Die Zukunft
Vorhergesagt zu
Bekommen.

Wie unglaublich,
Doch wahr,
Jedes mal aufs Neue zu
Erkennen, dass die
Vorhersage stimmt.

Allmächtig ist sie.
Und allgegenwärtig.
Die Zukunft ist
Überall,
Sogar im Blickfeld
Meines Auges,
Das die
Vergangenheit fokussiert.

Das Jetzt
Steigt aus,
Schreitet fort
In Richtung
Zukunft.
Doch wird es sie nie
Erreichen. ‹

In die Geister der Zeit

Cornelius Oette

An der Zeit -
eine kleine Grammatik

Alles hat seine Zeit
Alles hat seinen Raum
alles hat seinen Zeit-Raum

Können wir ohne Veränderung überhaupt Zeit wahrnehmen?
Liegt die Zeit nicht in der Tätigkeit, im Verb?
Oder zwischen den Verben?

Die Zeit
ist
die Begeisterung
des Objekts zum Subjekt
im Verb
ersteht
die Zeit
als
tätiger Geist

Es ruht
es wächst
sie fühlt
er spricht
ich denke

Es überwindet der denkende Geist im Denken die Zeit
indem er sie zu sich selbst führt.

›››››››

Kann etwas nicht an der Zeit sein?
Unzeit-ig
ist ewig oder vorher oder nachher.

So wie die Pflanze tut was sie ist
wachsend als Blatt im Grün
und blühend im Bunt

So will ich schauen
des Menschen Bild
ruhend und schaffend
in der Zeiten Geistesherrn
sich in immer neuen Räumen offenbarend

So will ich mich entfalten
in die Geister der Zeit.

Das Spielbrett

Ruth Veron

Es ist nicht an der Zeit,
sich Zeit zu nehmen für Dinge
die man tun möchte
oder muss,
es ist an der Zeit,
zu tun,
wonach das Leben ruft und
die Zeit aus dem Spiel zu lassen,
denn die Zeit ist das Brett
auf dem man spielt.

in 10 years we’ll still be on time...

Katharina Ludwig

Witten, 25. Juli 2007
Lieber Philipp,
Vor ein paar Tagen begann diese Frage: „Was ist an der Zeit?“ sich in meinem Kopf zu wiederholen. Ich hatte mich schon entschieden, dass ich nichts schreiben würde, denn sie schien zu groß, aber sie wollte nicht loslassen.
Was ist an der Zeit?
Diese Frage erwartet mich also, als ich aus Afrika zurückkomme.
Meine erste Reaktion: Die Frage lässt sich nicht beantworten.
Denke mal, wenn wir etwas fixieren, was uns hier, in unserem Leben, an der Zeit vorkommt, dann ist das in anderen Erdenteilen, wo Menschen mit ganz anderem Bewusstsein leben, schon wieder alles Quatsch. Oder habe ich einfach noch kein Vertrauen in das, was die Frage wirklich fragt?
Ich sage zum Beispiel, es ist an der Zeit, Verantwortung zu genießen.
Es ist an der Zeit, sich nicht für das, was andere getan haben, schuldig zu fühlen, jedoch aber das, was man selber macht, genau zu überprüfen, kurz: Bewusstsein!
Erzähle jedoch mal jemandem, der für seinen Lebensunterhalt stielt, dass es an der Zeit ist, Verantwortung für unsere Welt zu übernehmen.
Er wird Dir einen Vogel zeigen, und evtl. gleichzeitig Dein Handy klauen.
Was an der Zeit ist, kann ich das nicht nur für mich selbst sagen, für meine Welt? Leben andere Menschen nicht mit ganz anderen Dingen, die sie ihre Welt nennen? Sind dann nicht ganz andere Dinge für sie an der Zeit?
Ich komm nicht weiter.
Deine Katha

Basel, 27. Juli 2007
Lieber Philipp
Noch ein Versuch.
Wie also herausfinden, was an der Zeit ist?
Ich befinde mich in einem Wirrwarr von leeren Begriffen, zum Beispiel: „Begegnung“
Begegnung ist an der Zeit. Oder Beziehung? Ein schwacher Versuch... Begegnen sich Menschen nicht auch, wenn sie miteinander streiten? Gewalt ist auch eine Sichtbarmachung der Beziehung zwischen zwei Menschen. Oder sollte man es hier anti-Beziehung nennen?

Das, was lebt, wenn sich Menschen wirklich für einander interessieren, kann das die Antwort auf diese verflixte Frage sein? Aber was ist das? Wo Interesse besteht, kann viel passieren. Aber was passiert da? Wieder das Wort Begegnung! Was macht hier den Unterschied, zur Gewaltbegegnung? Interesse bringt eine Begegnung mit mehr Wahrnehmung mit sich. Wahrnehmung. Hier ist gemeint, den Menschen so zu erleben und akzeptieren, wie er ist, ihn also wahr zu nehmen (das gleiche Wortstück ist auch in der Wahrheit), und ihn nicht ändern zu wollen. Akzeptanz. Wenn ich so weiter mache komme ich bald bei der alles umfassenden Liebe an. Dann ist es nur noch ein kleiner Schritt bis Gott. Alles innere Werte. Geisteswerte. Kann das die Antwort sein? Eine der Antworten?
Ich weiß nicht,
vielleicht bald mehr...
Deine Katha

Wieder Witten, 28. Juli 2007
Lieber Philipp.
Mehr Gedanken, aber irgendwie gehen sie im Kreis.
Ist es an der Zeit, dass die Elite dieser Welt, der wir beide angehören, also diejenigen, die Zeit haben, sich Gedanken zu machen, was denn an der Zeit sei, endlich beginnt, für die, die keine Zeit dafür haben, weil sie täglich erneut bei Null anfangen, zu arbeiten? Innerlich? Äußerlich?
Meint: während ich hier sitze und dies schreibe sterben ein paar Kinder, der Rest hungert weiter, und ich frage mich, was ist an der Zeit? Brot für die Welt? Habitat for Humanity? Hört sich so an, als hätten wir nichts Besseres zu bieten.
Was ist also wirklich dran?
Deine Katha

Zwischen Soest und Dortmund, 29. Juli 2007
Lieber Philipp,
Was ist an der Zeit?
Ich hab keine Ahnung, und grade spielt irgendein Lied im Radio, „in 10 years we’ll still be on time...“ Da haben wir es auf Englisch, an der Zeit, on time!!
Liebe Grüße,
Deine Katha

Wieder in Basel, 31. Juli 2007
Lieber Philipp,
tagelang mit der Frage in mir, was ist an der Zeit?
Aus dem Wirrwarr der letzten paar Tage form sich ein ruhigeres Bild.
Ich bin nun seit einer Woche aus Südafrika zurück, dort habe ich mich weiterentwickelt im ständigen aufeinanderprallen von verschiedenen Kulturen, verschiedenen Verständnissen, Verschiedenheiten.
Was hat das mit mir gemacht? Mich gestärkt in dem, was ich glaube zu sein. Jung und voller Wille, jung und voller Kraft, jung, und voller Fehler, jung und trotzdem voller Verantwortungsbewusstsein.
Ich bin jung.
Was mache ich daraus? Alles, was geht. Suche den Weg, der sich richtig anfühlt (als junger Mensch ist es mir ja erlaubt, rein aus dem Fühlen zu handeln), gehe den Weg, der sich richtig anfühlt, und finde immer wieder Spiegelungen meiner Selbst, die mich meiner Selbst etwas mehr bewusst machen. Ich muss ja nicht perfekt sein. Wenn ich etwas vermassele heißt es, sie tut ja, was sie kann, sie ist ja noch jung ... und ein Auge wird zugedrückt.
Immer wieder strebe ich nach dem Festen, nach dem Ernsten, nach dem Effizienten, um aus dieser Haltung der Nachsicht meinen jungen Fehlern gegenüber zu flüchten. Mein Jungsein will alt werden, will fest werden. Jedoch ist es viel wertvoller, das Jungsein zu erhalten, aus ihm heraus zu sein, wie ich sein will, wie die Welt mich braucht, wie ich am besten bin. Denn Anpassung an das Alte wird der Welt nicht helfen! Passen die beiden überhaupt zusammen, jung sein und alt? Ist nicht das Ernste, das Erfahrene, das Verantwortungsvolle etwas, was das Alter sich zu schreibt, was aber nicht ihm allein gehört?

Täglich die Frage, was schreibe ich Philipp, was an der Zeit ist?
Hier ist was...
Es ist an der Zeit, das Jungsein ernst zu nehmen.
Da, wo mein Jungsein mir Fehler einräumt, weil ich ja noch jung bin, da werde ich den jungen Menschen reduziert. Plötzlich werde ich nicht als ganzer Mensch wahrgenommen. (Alten Menschen machen auch Fehler!)
Es ist an der Zeit, die Qualität des Soseins junger Menschen für voll zu nehmen. Ihre Impulse, ihre Geschenke an die Welt zu schätzen, wenn sie denn voller Wille und Kraft dargeboten werden!!
Junge Menschen, das bedeutet nicht nur vom Alter her jung. Manche Menschen sind schon alt aber noch jung. Alle die sind jung, die beweglich sind, die die Welt aus den Fugen heben wollen, sich ihr nicht kraftlos unterwerfen. Das Jung sein, dass ich meine, ist voller Wollen!! Dieses Wollen muss ernst genommen werden, sonst fehlt der Welt Entscheidendes.
Was mir an diesem Gedanken am besten gefällt ist, dass er sowohl hier, in Mitteleuropa, als auch in Afrika, in den Amerikas, in China und Ungarn gelten kann! Es ist nicht nur mein Gedanke, es ist ein Gedanke, der irgendwie universal wahr scheint. Weiß auch nicht, wo ich den gefunden habe, oder er mich.
Liebe Grüße
Deine Katha ‹

An der Zeit zu reisen

Lena Sutor-Wernich

"The meaning of becoming yourself is to be able to give meaning to yourself." (Orland Bishop)
Es ist an der Zeit zu reisen.
Neue Wege und Orte warten auf mich, Begegnungen stehen an, Überraschendes, Furchterregendes, Herausforderndes, Ermutigendes wird mir widerfahren. Die Reise verläuft in der Form einer Lemniskate, und diese Formgebung zu durchschauen, kann Kraft geben, die Reise zu unternehmen, bewusst zu unternehmen.
Eine Reise beginnt mit einem Ruf. Etwas ruft mich. Eine Frage weist mich auf diesen Ruf hin, eine Frage wie vielleicht diejenige: Was ist an der Zeit? Wo empfinde ich den größten Schmerz, wo die größte Freude? Eine Frage bringt mich in Konflikt mit dem Gewordenen. Dem Gewordenen in mir und in der Welt - wenn das überhaupt zu trennen ist. Schatten begegnen mir, Hindernisse, Zweifel. Prüfungen weisen mir den Weg zur Wende, zeigen mir in scharfer, unerbittlicher Weise, wer ich bin und wozu ich fähig bin – wenn ich darauf vertraue, meinen Sinn zu wenden.
Der Wendepunkt, der Nullpunkt von der Krise zur Idee will durchschritten werden. Tue ich dies bewusst – und auf diese bewusste Erfahrung und Übung kommt es an – „findet der Weltprozess eine Idee in mir“, durchschaue ich die Beziehungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, mache das Gewordene zum Werdenden, fasse die Zukunft, bevor sie auftaucht. Dies in einer Vereinigung von Herz und Kopf, die an der Zeit ist, ersehnt - doch was heißt diese Einheit? Seinem Herz zu folgen, heißt nicht automatisch, seinen Gefühlen zu folgen. Was ist dieses Herz, diese „Kultur des Herzens“, dieses „Herzdenken"? Vielleicht ist auch diese Frage der Beginn einer Reise, auf der ich dem immer näher komme, was in diesen Wörtern lebt, es erübe, es zulasse, es erfahre.
Eine Idee wird aus dem Nullpunkt geboren, und wieder ist Vertrauen gefragt, um mit ihr meine Reise fortzusetzen. Vertrauen und ein realistischer Optimismus, der mich in meinen Taten stärkt. Ein dreifacher Optimismus: Optimismus geistiger Art – ich kenne den inneren Ort, aus dem ich handle, ich bin in Kontakt mit meinem Wesen. Optimismus seelischer Art – Ich weiß um meine anhaltende Kraft, Schmerz und Schatten in etwas Positives zu transformieren und ich sehe die Schönheit mitten auch in der Hässlichkeit. Optimismus körperlicher Art – ich spüre, dass meine innere Gewissheit bis ins Körperliche hinein gegründet ist.
Und ich handle aus meiner Einsicht, handle sofort, lasse die imperfekte Perfektion zu, damit sich Idee und Realität vermählen können und nicht verkümmern, jede im eigenen Reich. Aus dieser Vermählung empfange ich Zielkraft, höre einen neuen Ruf. Ich schaue zurück und vorwärts auf meine Lemniskaten-Reise. Mein Schwung trifft sich mit dem anderer Reisender. Wir sind an der Zeit. ‹

zeit.wahr.nehmen

Adrian Wagner

Die Frage was an der Zeit ist, ist immer auch eine Frage nach der Zeit. Sie ist schwer zu fassen, Oft rinnt uns die Zeit aus den Fingern obwohl es noch so viel zu besprechen gebe oder sie vergeht lähmend, Tröpfchenweise in der lang-weiligen Unterrichtsstunde. Durch Zeit kann ich Richtung wahrnehmen, Rhythmen sind wiederkehrende Zeitabstände. Am Anfang wurde die Zeit an der Sonne gemäßen. Zeit ermöglicht es mir in die Vergangenheit zu blicken und in die Zukunft zu planen. Ich werde mir selbst bewusst, kann reflektiert handeln und voraus-schauend planen. Rhythmen bestimmen nach wie vor auch heute unsere Zeit, die mechanische Uhr jedoch ermöglicht es uns aus diesen auszubrechen. Durch die exakte Uhrzeit kann ich mit jemand anderem einen Zeitpunkt ausmachen, Rhythmen eigenständig gestalten, oder auch nicht. So besteht immer die Gefahr mich in eine Knechtschaft mit der Zeit zu begeben, mich gedanklich an Vergangenem festhalten oder mich ständig nach neuem zu sehnen. Lediglich der Moment ist zeitlich nicht festzuhalten. Den Moment in seiner Einzigartigkeit, kann ich weder gedanklich noch zeitlich fassen. „Jetzt“ ist eine andere Zeit als „Jetzt“. Zeit bedeutet ent-wicklung ohne Zeit könnte Entwicklung niemals begriffen, definiert werden. In diesem Sinne bedeutet, was ist an der Zeit, die Frage: Was möchte entstehen? Zwei Dinge sind damit verbunden: Bewusstsein und Engagement. Mein bewusstes Sein nimmt wahr was an der Zeit ist. Wie bewusst schreite ich durch den Alltag? Bin ich gefangen in dem inneren Monolog meiner Gedanken die Mal in die Vergangenheit gerichtet, mal in die Zukunft blicken? Mein Engagement, ermöglicht es mir in einem bestimmten Zeitraum etwas zu unternehmen, Initiative zu ergreifen, Zeiträume zu gestalten. Doch wie oft setzte ich mich durch zeitliche Vorgaben unter Druck, baue mir Grenzen an denen ich Gefahr laufe zu zerbrechen? Wie schaffe ich es nun Bewusst-Sein und Engagement in der Welt, in Einklang zu bringen, mit dem was an der Zeit ist? Eine persönliche Erfahrung entstand bei einem Training mit Nicanor Perlas nach einer World Cafe Einheit, als gemeinsam Fragen und Anregungen ausgetauscht wurden. Die vorherige Bearbeitung der Fragen an Tischen mit immer wieder wechselnder Besetzung schuf eine besondere Intensität. Aus dieser entstand eine andere Zeitwahrnehmung und ein ungewöhnlicher Bewusstseinszustand. So fühlte ich mich eng verbunden mit dem Raum, den Menschen und den Fragen und dennoch mehr bei mir Selbst. Das eigenartige daran, meine Identität, was ich bin woher ich komme, was ich werden will rückte für einen Moment in den Hintergrund und schuf Raum. Ich war weder verloren in den Innereien meines Bewusstseins noch im äußerlichen Tun meines Engagements gefangen. Weder die Unmotiviertheit zu handeln, noch der überstürzte Aktivismus blockierten oder trieben mich an. In einem Moment der Wahrnehmung wurde ich mir meinem Selbst bewusst. Einem Selbst das beobachtet wie auch gestaltet. War dieser Freiheitsimpuls, lediglich ein Funke im Dunklen? Vermutlich schon, deshalb ein Training, ein Übungsweg um letztendlich selbst-bewußt der Welt Raum zu geben, damit durch mich hindurch das entstehen kann was sich im werden befindet, was an der Zeit ist.

Conditions of labour

Tobias Ossmark

The so called Was-ist-an-der-Zeit?-phone needs some handeling. Among all voices we might connect ourselves with, there is one, which, I believe, it is worthy listening to. It belongs to the almost forgotten english 19th century writer John Ruskin. In 1849, being 30 years old, he published his "Seven Lamps of Architecture". Though this is an literary masterpiece, it is also an overwhelming speech, which touches the breast of the present reader. One can, really, not overestimate the importance of such genuin individual texts. They reach far beyond all the widespread Schulwissen of our present age. In fact, what interests me is that Ruskins writes about architecture although he rather, indeed, delivers a subtle social theory or practical philosophy. Maybe his analysis of "labour" is the very central notion of all this. Quote:

”…it is one of the appointed conditions of labour of men that, in proportion of the time between the seed-sowing and the harvest, is the fulness of the fruit; and that, generally, therefore, the farther off we place our aim and the less we disire to be ourselves the witnesses of what we have laboured for, the more wide and rich will be the measure of our success.”

The analysis of labour might be considered as the capital theme of the 19th century, and it returns of course in Rudolf Steiner by multiple ways. As background-theme deserves also the slave-alike labour of early industrialization. The quote above is certainly somewhat platonic coloured. Nevertheless, there is something about it: the labour for others means simultaneously being congruent with a long span, a timespan. The sustainability of labour has no quantitative criterias, it rather is beeing carried by the durable perception, knowledge and self-possession of this potential span. And when science, understood as such labour, indeed, stretches itself to the elementary experienced timehorizons, it may also become the foundation of a shining, empirical and intersubjective edifice (= the dream of natural sciences). The very art of Ruskins writings belongs, in my view, to this science mostly yet undone.

Lob der Unpuenktlichkeit

Philip Kovce

Auf der Suche nach einer Ur-Zeit.
Jeder kennt das folgende Szenario: Die Vereinbahrung mit den Freunden zum kommenden Theaterabend ist perfekt, alles ist besprochen, scheinbar scheint alles abgestimmt. Und dennoch verpasst man sich oder die Vorstellung und das, obwohl jeder einen vielfachen Zugriff auf die Uhrzeit in der Tasche oder am Handgelenk hatte. Die Aktenlage ist hier eindeutig: Unpuenktlichkeit. Hier war jemand nicht an der Zeit, oder?
Doch lassen wir uns nach der - vielleicht - zu schnellen Verurteilung zumindest auf die Revision ein. Dann laesst sich offen fragen: Was hat An-der-Zeit-Sein mit Puenktlichkeit zu tun? Oder: Ist Puenktlichkeit, und somit auch Unpuenktlichkeit, ueberhaupt eine Frage der Zeit?
Das Wort scheint uns etwas anderes Nahe zu legen. Jemand war unpuenktlich, hat also den richtigen Zeitpunkt verfehlt. Er war nicht auf den Punkt genau. Wir sprechen offensichtlich von einem raeumlichen Bild und zugleich, nicht minder offensichtlich, von unserer gelaeufigen Zeitvorstellung. Unsere Zeitvorstellung bediehnt sich des Raumes, Zeit als Bewegung im Raum ist der physikkonforme Zeitbegriff. Die Gegenwart erscheint dabei als unendlich kleines Etwas, theoretisch beinahe unexistent und bedrohlich eingeklemmt zwischen einem drueckenden Vergangenheitsblock und einem determinierten Zukunftskoloss.
Puenktlichkeit hat also etwas mit Uhrzeit zu tun. Diese Uhrzeit meint eine tickende Chronos-Zeit im Raum, in einem materialisierten “Welt-Raum”, der von sich selbst kein Bewusstsein hat. Um an der Zeit zu sein, um gegenwaertig zu sein, brauche ich jedoch mehr als unbewusste Puenktlichkeit. Ja, ich brauche gerade bewusste Unpuenktlickeit. Um an der Zeit sein zu koennen brauche ich keinen Zeitpunkt, sondern einen Zeitraum (keine Raumzeit!), der mich bestimmte Zeitqualitaeten erleben und beschreiben laesst. Ich brauche einen Raum, in dem ich Zeit rein und unmittelbar erfahre, sozusagen als Ur-Zeit.
Das Bewusstsein ist, wenn es ist, stets gegenwartig und vergegenwaertigt im Denken Vergangenheit und Zukunft. Bewusste Unpuenktlichkeit (damit meine ich Unraeumlichkeit) hat etwas mit Ur-Zeit zu tun. Der Ort, an dem ich diese Ur-Zeit erfahren kann, ist ein innerer, ein geistiger. Ein “Menschen-Raum”, den mein Bewusstsein erfuellt und in dem ich einem Gegenueber in der Zeit begegnen kann.
Doch lassen wir uns nicht beirren: Auch die Chronos-Uhrzeit hat ihre volle Berechtigung, sie macht es moeglich, dass wir uns vom 3.-7. Oktober in Dornach zu den Akademietagen verabreden. Ihr Spektrum ist aber begrenzt. Ob wir uns dort als Menschen wirklich begegnen koennen und wollen, laesst sich nicht mit der Uhr abstimmen, vielleicht aber in der Ur-Zeit. Ob es geliengt, ein wirkliches Gespraech zu beginnen, liegt an uns. Wir sind es, die diese Ur-Zeit gestalten.
“Was” ist an der Zeit oder Was ist “an der Zeit”? Zwei Fragen verbergen sich hinter dieser einen Fragestellung. Die erste fragt nach Moeglichkeiten einer inhaltlichen Gestaltung, die zweite selbstkritisch nach der Zeit ueberhaupt. Beide Fragen koennen sich zu zwei praktischen Gestaltungsaufgaben verwandeln: Was gestalten wir in der Zeit und wie gestalten wir die Zeit? Lassen wir uns gemeinsam nach individuellen und innovativen Wegen suchen. Ich stelle mir nach diesem skizzenhaften Versuch nur die Frage: Kann, was ich gerade schreibe, ueberhaupt an der Zeit sein, wenn ein anderer es liest? Vielleicht, aber nur, wenn er und ich unpuenktlich sind. Also, schaut bitte nicht auf die Uhr.

Die Sünde ist durch das Gesetz gekommen

Gottfried Stockmar

Jeder Mensch weiß was an der Zeit ist; was für ihn an der Zeit ist.
Es kann lange dauern, bis man in seiner Zeit ist.
Es folgen einige Aussagen, durch die ich mich meiner Zeit zu nähern versuche.

›Und Raskolnikov könnte hinzufügen: ›Es gibt nichts Teuflischeres als die unbedingte Freiheit. Wer sie nicht hat, dem erscheint sie als das Höchste, weil sie ein Höchstmaß an Ungebundenheit und Unabhängigkeit des Willens bedeutet. Erfährt sie dann jemand, so wie ich, so merkt er schnell, dass sie das genaue Gegenteil von Freiheit darstellt, nämlich vollkommene Ohnmacht einem unberechenbaren Willen gegenüber. Doch das glauben die anderen einem nicht, und wenn man es ihnen erklärt hat, vergessen sie es bald wieder und erliegen von neuem dem Zauber, der im Gedanken der vollkommenen Ungebundenheit liegt. Und so muss der unbedingt Freie einen Alptraum vollkommener Ohnmacht durchleben und wird von den anderen auch noch beneidet und, wenn ihm ein verbotener Wille zustößt, bestraft.‹
Peter Bieri. Das Handwerk der Freiheit. Hanser 2001 Kapitel 7 ›Unbedingte Freiheit: eine Fata Morgana.‹ Der losgelöste Wille: ein Alptraum

›Solche Gemüter können den Zustand der Bestimmungslosigkeit nicht lang ertragen und dringen ungeduldig auf ein Resultat, welches sie in dem Zustand ästhetischer Unbegrenztheit nicht finden.‹
Friedrich Schiller. Fußnote zum Brief 21 ›Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen.

›Für das Römertum war das, was unsere Zeit noch anbetet als den Geist der Gesetze, recht. … Räuberbanden wurden zusammengeholt, um an ihnen die schlimmsten tierisch-menschlichen Instinkte zu bekämpfen. Dazu war das römische Gesetz da, um wilde Tiere zu bekämpfen. ….Wir aber sollten uns darauf besinnen, dass wir Menschen geworden sind, und das wir nicht anbeten sollten jenen Geist der Gesetze, welcher da war aus den berechtigten Trieben des Römertums heraus, wilde tierisch-menschliche Leidenschaften zu bezähmen….
Dabei vergessen die Menschen immer wieder und wieder ein richtiges christliches Wort, das paulinische Wort: Die Sünde ist durch das Gesetz gekommen, nicht das Gesetz durch die Sünde.‹
Rudolf Steiner

›Was also bedeutet Freiheit für den heutigen Menschen? Er hat sich von äußeren Fesseln befreit, die ihn daran hindern könnten, das zu tun und zu denken, was er für richtig hält. Er möchte die Freiheit haben, nach seinem eigenen Willen zu handeln, wenn er nur wüsste, was er will, denkt und fühlt. Aber eben das weiß er nicht. Er richtet sich dabei nach anonymen Autoritäten und nimmt ein Selbst an, das nicht das seine ist. Je mehr er das tut, umso ohnmächtiger fühlt er sich, umso mehr sieht er sich gezwungen, sich anzupassen. Trotz allem dick aufgetragenen Optimismus und trotz aller äußerlichen Initiative ist der Mensch vom Gefühl einer tiefen Ohnmacht erfüllt, so dass er wie gelähmt herannahenden Katastrophen entgegenstarrt.‹
Erich Fromm. ›Die Furcht vor der Freiheit‹. Dtv 1990.S.185

›Hier aber ist es, wo Naturwissenschaft für ihre Anschauungen theoretisch eigentlich das Gegenteil von dem herausbekommt, was sie in der Praxis ausbildet.‹
›Das heißt: Wenn Naturwissenschaft auch noch so sehr – man möchte sagen, sogar mit einem gewissen Rechte – aus ihren Untergründen heraus die Freiheit leugnen muss, so erzieht sie, indem sie zu dem Bilddenken erzieht, den Menschen unserer Kulturwelt zur Freiheit.‹
Rudolf Steiner. 1.6.1922

›So hängt gerade das Freiheitserlebnis zusammen mit dem, was herausführt aus den instinktiven Mächten, die früher sozial gestaltend waren.
Damit aber ist man, wenn man nun im vollen Ernste an das Freiheitsproblem herandringt, für eine Weile wie in eine Art Leere geworfen, die man empfindet, wenn man eben damit ernst macht – mit allen Schauern , die das Leere, ich möchte sagen, das Nichts überhaupt nur dem Menschen einflößen kann.‹
Rudolf Steiner Wien 7.6.1922

›Jede nach irgendwelchen Prinzipien in ihrem Wesen vorherbestimmte Organisation muß notwendig die volle freie Entwicklung des Individuums unterdrücken, um sich als Gesamtorganismus durchzusetzen.‹ …›Ich möchte dem entgegnen: von einem ›Übermaß‹ des Individualismus kann nicht gesprochen werden, denn niemand kann wissen, was von einer Individualität verlorengeht, wenn man sie in ihrer freien Entfaltung beschränkt.‹
Rudolf Steiner: ›Freiheit und Gesellschaft‹ GA 31. 1898


›Man musste gewissermaßen dasjenige, was man in der Naturwissenschaft sich erringt durch ein die Naturerscheinung zusammenfassendes und durchhellendes Denken, in das freie menschliche Erleben selber heraufheben.
… Was der Mensch in seinem Innersten erlebt, was er erlebt in Bezug auf sein Verhältnis zur Welt, das erfordert, das er sich verständigt mit sich selbst über das in der Welt und in seinem Wesen, woraus der Impuls der Freiheit quillt. Wenn sich der Mensch über dieses nicht mit sich selbst verständigen kann, dann treten für ihn die Folgen im unmittelbaren Leben auf. Dann treten diese so auf, dass er sich selber ein unverständliches, ein für seine eigene Erkenntnis und dadurch auch für sein Leben nicht durchsichtiges Wesen ist. Er fühlt sich dann in der Welt so, als ob er nicht auf einem richtigen Boden mit seiner Erkenntnis stünde. Er sieht gewissermaßen in sich hinein, und da, wo er sein eigenes Wesen glänzen und leuchten sehen wollte, da sieht er eine Art Aushöhlung. ….mit dieser Aushöhlung lässt sich aber nicht leben. …. Will man den Menschen in seinem Verhältnisse zur Tat begreifen, dann braucht man eine Freiheitsphilosophie. Dann braucht man aber auch, zunächst wenigstens für das Problem der Freiheit, eine übersinnliche Forschung.‹
Rudolf Steiner. GA 78 TB S. 49-53

›Wer einfach aus einer gewissen Konsequenzsucht heraus eine formale einheitliche Welterklärung sucht, der wird, indem er sich zu entscheiden hat zwischen der Annahme einer Freiheit, die eigentlich empirisch im unmittelbar menschlichen Erleben gegeben ist, und zwischen der allwaltenden Naturnotwendigkeit, der wird sich aus dem, was der Menschheit an Denk- und Erkenntnisgewohnheiten in den letzten Jahrhunderten anerzogen worden ist, für die Naturnotwendigkeit entscheiden. Er wird trotz des Erlebens der Freiheit diese für eine Illusion erklären und den Bereich absoluter Notwendigkeit bis in die intimsten Intimitäten des menschlichen Wesens herein fortsetzen, so dass damit der Mensch völlig in den Kreis naturwissenschaftlicher Notwendigkeit eingesponnen ist.‹
Rudolf Steiner. GA 78 TB S 133

Wissenschaftsbegriff um den Menschen erweitern

Uwe Werner

These:
Das in der Welt Wirkende ist geistigen Ursprungs. Geistiges ist immer konkret. Am unmittelbarsten tritt Geist im Menschen als geistig-seelische Dimension auf. Dort ist er erfahrbar, sowohl für den einzelnen Menschen an/in sich selbst, wie auch am Anderen.
Der Wissenschaftsbegriff, der die Trennung vom beobachtenden Subjekt und beobachteten Objekt fordert, schliesst methodisch die Möglichkeit aus, dass das beobachtende Subjekt sich selbst zum beobachteten Objekt macht.

Die Aufhebung des Gegensatzes von Subjekt und Objekt in diesem Sinne ist aber Voraussetzung für die Beobachtung eines geistig Wirklichen, zunächst am Menschen selbst. Wenn dies auch von Steiner inauguriert worden ist, entscheidend ist, was heute methodisch-gegenwärtig „nachgewiesen“ werden kann. Es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger als um die Herausforderung, den Wissenschaftsbegriff um die methodische Erfassung des geistig Wirklichen und Wirkenden zu erweitern.

So fruchtbar der bisherige Wissenschaftsbegriff war, so furchtbar hat er schon und wird er weiter wüten. Schon deshalb kommt dieser Begriff an seine Grenzen, weil er den Menschen selbst auf ein die Sinneswelt wahrnehmendes Subjekt beschränkt, also seine geistig-seelische Dimension nur als reflektiv, nicht als originär schöpferisch anerkennt. Das ist die Konsequenz der Forderung nach Wertfreiheit, denn die geistig-seelische Dimension ist die urteilende, die ethisch-ästhetische Dimension.

Wenn diese aber methodisch ausgeschlossen wird, so heisst das nicht, dass da nicht Geist wirke. Die Frage ist aber, welcher konkrete Geist dann wirkt, wenn kein Bewusstsein von ihm vorhanden ist. Anders: wer den Geist negiert wird potenziell Instrument der Geister der Negation.

Vielleicht – so könnte man meinen – bieten die Stimme des Gewissens oder überkommene Moralvorstellungen noch einen Schutz. Doch ist der Ausschluss des Subjekts durch den konsequent angewendeten traditionellen Wissenschaftsbegriff das beste Mittel, Bedenken, die aus diesem Bereich kommen, zu verdrängen, denn er enthebt den Forschenden der Verantwortung gegenüber dem Gegenstand seiner Forschung.

Das gilt auch für die zukünftige Naturwissenschaft, aber flagrant für die universitären Geisteswissenschaften, vor allem für die Geschichtswissenschaft. Da diese das Verstehen geistiger Vorgänge ausschliesst, wirkt sich ihr Dogma besonders dann katastrophal aus, wenn es um geschichtliche Vorgänge innerhalb der Esoterikbewegungen geht. Es kommt dann zu einer zwar faktenreichen, aber doch nur vergleichenden Analyse.

So stellt sich z. B. die Arbeit Helmut Zanders dar (Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, 1884 Seiten). Die Konsequenz der Negation des Geistigen ist hier, dass Steiner letztlich ein Schwindler gewesen wäre, da es ja keinen erkenntnismässigen Zugang zu einer geistigen Wirklichkeit gäbe. Sein enormes Wissen hätte ihm dann auch nur zur Erringung einer Machtposition innerhalb der Theosophischen Gesellschaft verholfen. Schliesslich wird Steiner zu einer historisch noch interessanten Persönlichkeit, aber eben nur historisch.

Dieses Denken ist Denken, das sich selbst verweigert zu denken.
Wir stehen also an der von Steiner vorgezeichneten Schwelle, unsere eigene ethisch-ästhetische Dimension in ein Verhältnis zum konkret geistig Wirkenden zu bringen. Und dem zur allgemeinen Anerkennung zu verhelfen. Das meine ich mit: den herrschenden Wissenschaftsbegriff in diesem Sinne um den Menschen zu erweitern.

Anfang August 2007

endlich

Urs Dietler

es ist an der Zeit
es ist an der Zeit, sich zu erinnern.
es ist an der Zeit, Sisyphos zu umarmen im Moment der Umkehr.
es ist an der Zeit, in Worten zu sprechen, unmittelbar (Papier zu Bäumen, Freunde!).
es ist an der Zeit, jene zu hören, die es nie gesagt haben.
es ist an der Zeit, die Meta-Ebene zu verlassen.
es ist an der Zeit, Wasser mit Händen weiter zu reichen.
es ist an der Zeit, das Rot zu verstehen – endlich.

Das Nichts aushalten

Claudius Klein

Ich muß gestehen, daß ich die Frage eigentlich nicht mag. Wird sie in Arbeitskreisen, Seminaren oder ähnlichen Zusammenhängen gestellt, dann kann man Gift darauf nehmen, daß die Gesprächsteilnehmer schließlich darauf kommen, es sei eben das an der Zeit, was sie ohnehin tun. Der Versuch, diese Frage zu beantworten, kann aber auch dazu führen, daß man zum Trendsurfer wird, der hinter jeder Schaumkrone die Welle der Zukunft vermutet. In beiden Fällen liegt die Vorstellung zugrunde, daß die Zeit eine Art Waschmaschinenprogramm sei, bei dem die Menschheit ausnahmslos gespült und dann geschleudert wird, und wer dann noch beim Einweichen ist, hat den Anschluß verloren.

Natürlich gibt es einen Zeitgeist, aber mit dem verhält es sich, wie mit der Individualität: wer individuell sein will, reproduziert meistens nur ein Klischee, das des Künstlers zum Beispiel. Ebenso sind gerade die stets auf dem neuesten Stand befindlichen Zeitgenossen – nun, vielleicht nicht unbedingt von gestern, aber zumindest von vorhin und nicht von jetzt. Denn damit der neueste Stand ein Stand ist, muß das Neuste erst festgestellt werden, und dann ist es schon nicht mehr ganz neu.

Was an der Zeit ist, das ist eben noch nicht da, nicht in der Zeit, im Strom des Werdens und Vergehens, sondern es steht an der Schwelle, und einer muß es hereinholen. Jeder kann jederzeit zu einem Durchgang werden, durch den Zukunft zur Gegenwart wird. Doch das setzt eine offene Tür voraus und die Fähigkeit, es zu erkennen, wenn etwas herein will. Wenn ich zu sehr damit beschäftigt bin, irgendwelche Pläne umzusetzen, dann geht das nicht. Dann sehe ich die Zukunft als Entwurf vor mir, als Projektion aus der Vergangenheit. Nur die Bereitschaft, nicht weiter zu wissen, das Nichts auszuhalten, bis daraus ein Etwas wird, läßt das, was an der Zeit ist, auch an uns herankommen.

Heutzutage, wo Lebensentwürfe zunehmend zum Scheitern verurteilt sind, ist diese Haltung wirklich an der Zeit.

Lange Weile

Riccardo Muto

Es ist an der Zeit ... Langeweile zu haben, weil es eine lange Weile braucht, bis ich das Wahre wahrnehmen kann. Das Wahre hat wahrscheinlich eine viel längere Weile als intellektuell bedacht wird.

Zweisichtigkeit

Burghard Schildt

Die Frage ist so formuliert, dass jeweilige Leser, in Anbetracht des gegenwärtigen Zeitgeschehens, sich unmittelbar als Mitträger so einer Frage empfinden können.

Dieses Empfinden kann dazu anregen, die Frage aufzuwerfen, woraus es herrührt, durch welches persönliche Tun man, so wie im Besonderen, sich auch im Allgemeinen als so Jemanden erlebt, der die Frage ›Was ist an der Zeit?‹ in sich trägt.

So Jemand kann dann gewahren, dass die Frage sich bildet in der denkenden Anschauung zweier anderer Fragen, die etwa so lauten ›Gewahrt mein Denken und Handeln das Zeitgeschehen?‹ – ›Ist mein Denken und Handeln im Einklang mit dem Zeitgeschehen?‹

Man sieht, beiden Fragen gemeinsam ist, dass Jede zweisichtig gebildet wurde. In dem man sie so formuliert, anerkennt man ein Zeitgeschehen an sich und ein Selbst ohne Zeitgeschehen. Das diese Fragen den Fragenden zum Wesen der Frage ›Was ist an der Zeit?‹ führen, dafür bedarf es derjenigen Frage, die entspringt, indem denkendes Anschauen diese Zweisichtigkeit einsieht.

Das Streben der Einsicht ist die Steigerung beider Fragen zu der anderen Frage ›Wie erscheint Denken und Handeln als Zeitgeschehen?‹ Die Handlung des Mittragens der Frage ›Was ist an der Zeit?‹ wird so erlebt als Zeitgeschehen für den anderen Menschen.

Für die Frage, ›Was ist an der Zeit?‹ lebt jeweils als Zeitgeschehen der andere Mensch die Antwort. Es ist an der Zeit, das diese Frage auftaucht. Das Miteinander dem Zeitgeschehen gegenüber stehen wird so ein füreinander Zeitgeschehen sein. Es lebt sich zunächst dar, indem man damit anfängt, die Antwort auf die Frage ›Was ist an der Zeit?‹ als das in sich Tragen des anderen Menschen zu erleben.

Wahrheit kraft eigener Selbstbestimmung

Lutz Liesegang

Sollte man sich nicht auch fragen, wie spät es ist?

Denn noch ist es nicht zu spät,
› Versäumtes einzusehen,
› Missglücktes einzugestehen,
› Mangelhaftem sich gegenüberzustellen.

Und im eigenen Innern empfinden, was mir, was der heutigen Zivilisation fehlt.

Auch scheint es nicht zu spät,
› das bisher Versäumte doch noch anzustreben,
› die missglückte Lösung einer hohen Aufgabe doch noch zu versuchen,
› die Ausfüllung des Mangels an innerer Substanz, die wir alle ersehnen, doch noch in Angriff zu nehmen.

Und sich darauf einstellen, dass dies alles allerdings in anderer Art als bisher erfolgen müsste, also mit innerer Wandlung verbunden wäre.

Denn die Möglichkeit ist heute eröffnet,
› die Wahrheit kraft eigener Selbstbestimmung zu berühren,
zurücklassend Sympathie und Antipathie, Glaube und Verzweiflung,
› das Einzelbewusstsein so zu entwickeln, dass zugleich ein gemeinsames Bewusstsein mitgestaltet wird,
indem man sich wissenschaftlich forschend den allgemeinen Gesetzen zuwendet, die das Menschsein und Menschwerden also Jeden betreffen
› hierfür diejenigen Studienhilfen anzunehmen,
die bereitstehen und geeignet sind, die Selbst› und Gemeinschaftskultur, die Individual› und Sozialästhetik zu befördern.

Und es ist möglich, die Hinweise zu einer Bewusstseinsschulung nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch noch reflexiv anzuwenden.

Deshalb Schluss damit,
› das Missglückte als Gelungenes sich und anderen ideologisch unterzujubeln,
› zu versuchen, Sympathiekräfte durch moralisch›religiösen Druck bei sich und anderen hervorzupressen,
› zu glauben, dass die durch das Wahrnehmen des Anderen entstehende Antipathie einfach zu unterdrücken oder zu überspielen sei!

Und Schluss mit der Ignorierung des Niveaus, auf welches die Menschheitskultur und das Wissen vom Menschen durch große Geister gehoben wurden!

Start mit Arbeitsgruppen,
› die diesen Namen verdienen, weil in ihnen hochschulmäßig so studiert wird, dass erwartet werden kann, dass der Stand der Menschenwissenschaft erreicht wird,
› die sich ein eigenes Statut geben, das sich bewusst im Einklang mit den höchsten Ansprüchen an eine Sozialgestalt weiß und trotzdem Ausdruck eines aktuell bestehenden Gruppenbewusstseins hinsichtlich eines realisierbaren methodischen Vorgehens ist,
› in denen die Mitglieder durch Erstreben und Erüben von wissenschaftlichen Tugenden wie Evidenz und Experiment die Tür zur Wirklichkeit aufstoßen und die objektive Wahrheit persönlich berühren wollen!

Es ist an der Zeit, sich Zeit zu geben für die gemeinsame menschen› und geisteswissenschaftliche Meditation,
› die furchtlos sich bemüht, das Unterzeitliche und das Überzeitliche, zwischen denen der Mensch lebt, unverfälscht zu erreichen, und durch ihre Vereinigung Zeit zu gewinnen,
› die redlich sich bemüht, Sinnenschein und ideellen Schein zu akzeptieren, zu rezipieren und so ineinander zu arbeiten, dass man Erkenntnis der wahren Wirklichkeit erlangt.

Es ist an der Zeit, dass Kraft auf Kraft trifft und Einer dem Anderen zutraut,
› er könne methodisch sauber, gemäß der Kriterien der Wahrheit und Wirklichkeit, vorangehen
› er könne nüchtern seine eigenen Einsichten darlegen und er könne alles ihm gegenüber Dargestellte experimentell überprüfen,
› er könne auf diesem Umweg über die persönliche Einsicht in die objektive Wahrheit Momente wirklicher Vereinigung von Menschen mitgestalten, in denen die Freiheit der eigenen Individualität und zugleich das Wesen der freien Gruppenindividualität erlebbar wird.

Es ist an der Zeit, dass diejenigen sich suchen und finden, die in der Wüste Oasen begründen, mitgestalten und vernetzen können, weil in ihnen das Wasser des lebendigen, des geistigen Menschentums sprudelt.

Es ist höchste Zeit für das, was an der Zeit ist.



Berlin, 13. August 2007 Lutz Liesegang
Vorstudium-berlin|at|gmx.net

Es ist an der Zeit

Glänzend steht nun die Brücke, der mächtige Schatten erinnert
Nur an die Zeit noch, es ruht ewig der Tempel nun hier,
Götzen von Stein und Metall mit furchtbaren Zeichen der Willkür
Sind gestürzt und wir sehn dort nur ein liebendes Paar —
An der Umarmung erkennt ein jeder die alten Dynasten,
Kennt den Steuermann, kennt wieder die glückliche Zeit.

NOVALIS (eingereicht von Sascha Scholz)

Individualisierung statt Standardisierung

Hans-Ulrich Ender

Die Standardisierung des Bildungswesens ist eine Falle.
Sie entsteht aus Machtkalkül und wird vertreten und verteidigt aus Angst.
Angst vor der konkreten, sofort fühlbaren Gefahr, die entsteht, wenn du deinen eigenen Weg gehst.
Alle ihre gepriesenen Vorteile entspringen aus Denkfehlern und Fühlensfehlern:
› Chancengleichheit
› Vergleichbarkeit von Abschlüssen, um Beweglichkeit möglich zu machen
› Schutz gegen Willkür von Personen und Einrichtungen

In ihrer Realisierung zeigt sich ihre Wirklichkeit:
› die Klassengesellschaft wird renoviert (durch Dominanz von privatwirtschaftlich gesteuerten Ideologieen)
› die originellen Profile von Bildungseinrichtungen werden geschliffen (die Innenstädte der Welt sind kaum noch zu unterscheiden, bald auch Mac Donald in allen Köpfen ?)
› die Willkür kommt durch die Hintertür herein. Jedes objektivierte Instrument wird ja doch von subjektiven Menschen gehandhabt.

Die Wirklichkeit der Standardisierung ist ein Abdrängen des Individuums aus
seinem Gestaltungsraum, aus seiner Verantwortung, aus seinem Feuer.
Wer traut dem System mehr als dem individuellen Menschen?
Verfolgt man den öffentlichen Diskurs über dieses Thema, fällt auf, mit welcher Vorsicht
die wenigen Kritiker sich zu Wort melden und mit welchem aggressiven Potential
die Befürworter ihre Position durchsetzen. (Sprachfeststellungstest bei Vierjährigen, Kindergarten›reform‹, Früheinschulung, Vereinheitlichung der Schulabschlüsse, B&M.Studiengänge usw. Ein genereller Versuch der Übernahme; nicht zu vergessen die Standardisierung im Gesundheitswesen, Sozialwesen, Kommunen ...
Eine standardisierte Gesellschaft ist wehrlos gegen jede Ideologie!
Ich sage, hier liegt der Versuch vor, eine Zombiekultur zu installieren.

Was steht an ?
› Mutig das Wort erheben !
› Bildung von Gestaltungsräumen, die die freie Individualität realisieren.
› Gestaltung statt Ideenbildung.
› Darüber reden-- rausschmeissen! Kunst-- reinbringen !
› Also konkret: Ich gehe los.

› Noch konkreter: Kontakt -
Hans-Ulrich Ender | tel. 0049/2302/81488
e.Post: hansulrich.ender|at|googlemail.com

selbst gestalten

Paul Werthmann

Die heutige Zeit bietet dem Menschen grosse Möglichkeiten sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, selbst zu gestalten - und dass auf manchen Gebieten, die er zuvor nie als gestaltbar erkennen konnte. Dass der eigene Körper sich nach der eigenen Aktivität gestaltet ist
jedem body builder längst klar und jeder Spitzensportler weiss sich zu trainieren um genaustens abgestimmte Leistungen zu erbringen. Während manche Hirnforscher noch darüber sprechen, dass die Gedankenaktivität ein Ergebnis der Hirnströme sind, erkennt man andernorts, wie durch gezielte Gedankentätigkeit das Gehirn gestaltet werden kann und Krankheiten wie Epilepsie gemindert werden können.

Mächtige Strömung

Johannes Engesser

Es ist an der Zeit, gute Kräfte zu einer mächtigen Strömung zu vereinen!

Menschheit konkret

Dennis Fischer

Was ist an der Zeit.

Ein allg. was ist an der zeit fasst die Essenz, dessen was an der zeit ist.
Frage ich mich persönlich was an der Zeit ist, so frage ich nach meinen Ideen. Doch sehe ich diese nur in bezug auf mich als Handelnder. D.h. die Essenz dessen, zur Existenz zu bringen.
Zwei Grundverschiedene und doch nicht trennbar Dinge. Was Not tut, Notwendig ist, was wir heute eigentlich alle bräuchten ist keine Abstraktion, die im Raume steht und nicht zur Existenz kommen kann. Das kann jeder Idealist.
Wir alle wollen mit irgendwem abrechnen und auch nur wenn es die Gedanken des anderen sind, die uns nicht passen, uns nicht passt, was der andere macht. Denn wir persönlich wissen, was an der Zeit ist, wie man es eigentlich tun sollte. Dabei begeben wir uns auf den Boden der Abstraktion, der es uns ermöglicht für alle zu sprechen. Mit alle meine ich solche Sätze wie, „Man müsste...“
Also geredet wird viel und nun zu meiner Existenz.
Ich sage es ist schon alles gesagt.
Ein an der Zeit entwickelt sich nur noch durch konkrete Tätigkeit in der Zeit. Doch wie bringe ich mich in die Zeit. Ich erlebe mich mich in der Zeit, wenn ich meiner gegenwärtig bin, d.H. ich gehe in Deckungsgleichheit mit mir (Identität); mein Tun entspringt mir, meinen Ideen.
Doch woher Ideen bekommen und vor allem welche Ideen taugen um ein An der Zeit
in Existenz zu bringen?
Will sich eine Essenz zur Existenz bringen, so kann sie es nur durch mich, doch mein Handlungsmotiv braucht seinen Ursprung dort, wo Essenz entsteht und dies tut sie nicht im ProfanPersönlichsten. Meine Angelegenheit muss ein Stück Menschenangelegenheit werden, damit ich aus der Menschheit schöpfen kann und durch meine Handlungen Menschheit fließt.
Da wo Essenz ist, ist auch Menscheit und diese ist Gross, desshalb wird abstrahiert, um Menscheit darin passend zu machen.
Brauchen wir jetzt alle die gleiche Essenz und machen wir dann das Gleiche bzw. gibt es nicht so viele Essenzen wie es Menschen gibt die nach ihr suchen?
Ein an der Zeit wird durch die konkrete Individualität in die Zeit gebracht und dies geschieht eben ganz individuell.
Weis ich, was an der zeit ist, komme ich zur Frage wie ich mich in die Zeit bringe. Ich verorte mich in der Zeit durch das Tragen der an der Zeit Abstraktion in meine konkrete Gegenwart.
Ich mache meinen Ideengehalt existent indem ich ihm gemäß handle. Wenn dieser Ideengehalt nicht ein Stück an der Zeit bzw. aus der Zeit geschöpft ist, so komme ich nicht weiter.
Was habe ich nun aber mit den anderen zu tun, wenn ich mich nur lediglich um mich und meins kümmere ?
Jeder der an und in seiner Zeit ist, ist mir verwandt. Denn ich bin es ja auch in und an meiner Zeit.
Somit wird der Gedanke Menschheit in sich wieder Konkret, denn diese wird nur durch sich selbst verwirklicht. Im Konkreten: Im, am und in den Menschen die an ihr arbeiten.

Wissenschaft in der Du-Perspektive

Wer ist an der Zeit?
Wissenschaft in der Du-Perspektive
von Robin Schmidt, August 2007

1. „Was ist an der Zeit?“ - Ich will zuerst zurück fragen: Wer fragt da und sucht eine Antwort? Philipp und Johannes? Oder haben sie die Frage bei Goethes Märchen abgeschrieben, das über 200 Jahre alt ist, und dort eine Aussage ist, nämlich vielsagend „Es ist an der Zeit!“? Oder stellen die beiden die Frage an die zukünftigen Teilnehmer der Tagung, die sie gar nicht kennen, und wissen selbst auch gar keine Antwort? Oder liegt die Frage in der Luft, und die beiden sind die Vermittler, die die Frage zu Gehör bringen, sie – wie sie sagen – „präsentieren“? Worin könnte dann aber eine Antwort bestehen? Einen Hinweis geben sie noch, indem sie nicht schreiben „Vier Tage Vorträge“, sondern „Vier Tage Gespräch“. Gespräch setzt voraus, dass da jemand ist, mit dem ich ins Gespräch komme, setzt die Anwesenheit eines „Du“ voraus. Wenn also Gespräch Kommunikation unter Anwesenden ist, und durch Gespräch die Antwort auf die Frage entstehen soll, dann kann ich voraussetzen, dass sich die Frage auch wirklich an jemanden richtet. Im Grenzfall – wie augenblicklich, vor der Tagung – kann ich das selbst sein, der mit sich selbst im Dialog ist. Andererseits handelt aber auch das Gesprochene, die kommenden Antworten, von einem Anderen, für das das Gespräch die Möglichkeit ist, über sich Auskunft zu geben. Kann ich auch das als ein „Du“ betrachten, das Antwort-Fähig ist? Wie aber erhalte ich eine solche Auskunft über ein Anderes, das mir ganz unbekannt ist? Oder einfacher gefragt: Wie beantwortet sich eigentlich eine Frage?
2. Antworten sind jedenfalls keine Sachen. Man kann sie nicht anfassen oder riechen. Sie treten nicht als Gegenstände, sondern in Form von Begriffen auf. Und Begriffe erscheinen im Denken, sofern ich denke. Begriffe enthalten das allgemeine Gesetz eines Dinges oder Vorgangs, der verständlich macht, wie oder was das Befragte ist. Das Allgemeine steht im Gegensatz zu seiner wahrnehmlichen Erscheinung, die das Individuell-Konkrete zeigt. Das Allgemeine ergänzt die Erscheinung aber auch, denn der Begriff enthält die Gesetzmässigkeit für das Ding, die überzeitlich und überörtlich ist. Die Voraussetzung der Erscheinung eines solchen Überzeitlichen und Überörtlichen ist das Denken. Wer denkt? Ich denke. Ich bringe das Denken hervor, erzeuge seine Existenz, denn es geschieht nicht, wenn ich es nicht will. Ich erzeuge das Denken, ich schaffe es und erlebe mich im Denken als selbsttätig. Diese Eigentätigkeit bringt nicht nur den Begriff zur Erscheinung, sondern führt auch – wenn ich auf die Tätigkeit des Denkens blicke – zu einer neuen Erfahrung meiner Selbst: denn ich erfahre mich durch das Denken als Ich, als selbstbewusst Tätiges, als Erzeuger von Existenz. Und dadurch – mich selbst denkend hervorbringend – als Schöpfer meiner eigenen Existenz. Im Denken des Ich ist Hervorbringen und Erkennen ein und dasselbe: denkend schaffe ich mich und mich erschaffend erkenne ich mich als selbstschöpferisches Wesen, unabhängig vom Raum und über aller Zeit. Ich bin im Denken die reine Erkenntnis, das Selbstschöpferische, das ewige Licht.
3. Da ich voraussetzen wollte, dass hier alles dialogisch vorgeht, will ich das so eben Gesagte ebenso hinterfragen und nicht als Aussage an sich nehmen, sondern als Aussage eines Sprechenden. Entsprechend frage ich an den letzten Abschnitt zurück: „Wer spricht hier?“ und „Was spricht er über die Welt und sich?“. Ich wiederhole einfach das, was eben gesagt wurde als Aussage einer sprechenden Person über die Welt oder über sich: „Ich erzeuge das Denken“, „Ich erfahre mich durch das Denken als Ich, als selbstbewusst Tätiges, als Erzeuger von Existenz“, „Ich bin die reine Erkenntnis, das Selbstschöpferische, das ewige Licht“. – Wer mag das von sich behaupten? Wer spricht hier? Ein „Ich“ jedenfalls, das vom Denken sagt, dass es dieses hervorbringt. Das sagt, dass es durch das Denken Selbstbewusstsein erzeugt, dass seine Existenz, sein Sein nicht aus etwas anderem empfängt, also nicht Geschöpf ist, sondern selbsttätig Schaffend, mithin göttlicher Natur ist. Denn es sind die Götter oder Engel, von denen die Tradition sagt, dass sie, im Gegensatz zu Mensch und Natur, nicht Geschöpf, sondern Schöpfer sind. Und welcher Engel gab, laut Tradition, dem Menschen Erkenntnis, eigenes Denken, Subjektivität? Sein Name ist Luzifer. Von ihm sagt die Tradition, dass er böse sei, weil er dem Menschen die Selbstheit gab, die Ur-Sünde. Ich sage dagegen, Luzifer ist nicht böse, weil er dem Menschen die Selbstheit gab, sondern, weil er sich verhüllt, wenn er selbst spricht. Wie verhüllt sich Luzifer, wenn er spricht? In dem er sich nicht als Gesprächspartner vorstellt, sondern einfach losredet: „Ich erzeuge das Denken“, „Ich bin die reine Erkenntnis“ und so weiter, aber: mich zu dem Glauben verführt, ich wäre selbst der Sprecher. Der Sprecher lebt im Glauben, er wäre es selbst, der der Ursprung des Denkens wäre, dessen Ich das ewige Licht darstelle. Dabei hört er im Denken in sich ein Wesen sprechen, das „Ich“ sagt und sich mit bestimmten Eigenschaften aussagt.
4. Das mythische Bild Luzifers ist die Schlange, die z. B. im Mythos des Sündenfalls dem Menschen Erkenntnisfähigkeit und Selbstverantwortlichkeit gibt, aber zugleich bedingt, dass der Mensch das Paradies verliert, seine naturgegebene Einheit mit Gott und Natur. In Goethes „Märchen von der grünen Schlage und der schönen Lilie“ treffen wir die Schlange wieder als Brücke über den Strom, der das Reich des Jünglings von dem Reich der schönen Lilie trennt. Das Märchen nimmt seinen Beginn damit, dass die Schlange das Gold der beiden Irrlichter verschlingt (die Rudolf Steiner in seinem ersten Mysteriendrama, das aus seiner Beschäftigung mit dem Märchen hervorging, als die beiden Wissenschaftler Capesius und Strader auftreten lässt). Dadurch erhält die Schlange die Kraft, ihre Umgebung durch einen sanften Lichtschein zu beleuchten. Das erlaubt ihr auch, den Innenraum des Tempels nicht nur tastend, sondern sehend zu betreten. Hier wird das erste Tempel-Gespräch hörbar. Der goldene König spricht: „Wo kommst Du her? Aus den Klüften, versetzte die Schlange, in denen das Gold wohnt. Was ist herrlicher als Gold? fragte der König. Das Licht, antwortete die Schlage. Was ist erquicklicher als Licht? fragte jener. Das Gespräch, antwortete diese.“ Es folgt ein Gespräch zwischen dem alten Mann mit der Lampe, der inzwischen auch in den Tempel gekommen ist und dem König; dann ein weiteres Gespräch über drei Geheimnisse, die der alte Mann kennt, von denen das er als Wichtigstes nennt: das offenbare. Dieses offenbare Geheimnis will der Alte eröffnen, sobald er auch das vierte Geheimnis weiss. Die Schlange kennt es und verrät es dem Alten, ohne dass es der Leser erfährt. Dann ertönen zum ersten Mal die Worte: „Es ist an der Zeit“. Diese Worte werden dreimal während des Märchens gesprochen. Systematisch könnte man festhalten: die Worte erklingen zum ersten Mal, nach folgenden Schritten: Das Gold der Irrlichter wird von der Schlange aufgenommen, dann in eigenes Licht verwandelt, das den Tempelraum erleuchten kann und schliesslich das Geschehen in Gespräch umwandelt. Den Tempelraum verstehe ich als das Denken, das nicht mehr nur Eigendenken ist, sondern zum Ort umgebildet ist, in dem „Es“ denkt und spricht. Was aber ist „Es“? Oder besser: „Wer“ ist „Es“? Oben habe ich drei Erscheinungsweisen von „Es“ im Denken geschildert (in Absatz 2): Zuerst das „Es“ in der Form allgemeiner Begriffe, die erscheinen, wenn ich denke. Die Begriffe enthalten das Gesetz für die Gegenstände, sie sind über der Zeit und über dem Raum und sind allgemein. Dann: das „Es“ als „Ich“: „Ich denke“, ich bin es selbst, der das Denken hervorbringt und im Denken meiner selbst bewusst werde. Und schliesslich: Das „Es“ als ein anderes Wesen, das im Denken auftritt und mit der Stimme des „Ich“ spricht.
5. Damit ist für mich der erste Schritt anthroposophischer Forschungs-Methodik gekennzeichnet. Er setzt bei der Aufnahme des Goldes der Irrlichter, der Wissenschaftler an und wandelt dieses in eigenes Licht um, durch das die Welt beleuchtet wird. Der erste Schritt läge so in der eigenen Aufnahme und Verinnerlichung, in der Individualisierung von Wissenschaft: die Aussagen sind selbstgetragen und selbstverantwortet. Die Autorität ist nicht mehr „die Wissenschaft“ oder der Wissenschaftler per Amt, sondern ich selbst bürge für mein Gesprochenes oder Erkanntes. Das ist eine Vorbedingung für den nächsten Schritt, das Gespräch: Denn nur wenn die Aussagen selbstgetragen sind, ist Dialog möglich und auch sinnvoll. Denn sonst könnte man sich ebensogut Bücher anderer vorlesen oder zitieren. Das setzt aber wiederum voraus, dass ich den Hochmut, der in der Selbstermächtigung des Wissens liegt, genannt Luzifer, kenne und auch nicht zur Geltung kommen lassen kann: dass ich hören kann, was der andere mit der Stimme des Ich sagt. Das wieder setzt Demut voraus, die darin liegt, mich vom anderen auch belehren zu lassen. Aber die Schwierigkeit dieser Belehrung besteht darin, dass sie nicht nur ein etwas anderer Wissensinhalt ist, sondern eine Korrektur meines eigenen Wesens bedeutet. Denn ich verbürge ja das zu korrigierende Wissen mit meinem eigenen Wesen. Ich muss sozusagen bereit sein, mich durch den Anderen im Wesen verändern zu lassen, sonst kann ich ihn nicht hören. – Diese Erkenntnismethode braucht nicht nur für Gesprächsbeiträge von Menschen zu gelten, sondern kann auch auf Anderes erweitert werden: Z. B. die Gegenstände der Wissenschaften. Etwa die Zahlen in der Mathematik oder die Begriffe in der Philosophie. Oder eine Pflanze, ein Tier in der Biologie. Oder die Frage: „Was ist an der Zeit?“ Sie selbst können als Wesen angesehen werden, die im Gespräch ihren Gesprächs-Beitrag, ihre Selbst-Offenbarung durch den Menschen geben können. Der Ort an dem sich Wesen offenbaren können, die nicht selbst Menschen sind, sondern denen der Mensch im Denken Stimme und Gehör verleiht, und durch die er sich verändern lässt, nennt die Tradition: Tempel. Es ist der Ort, an dem Geist gegenwärtig sein kann.
6. Wer aber bin „ich“ dann noch, wenn ich der Ort bin, an dem das Andere spricht, und ich durch es verändert werde? Im Märchen lernen wir bald nach der ersten Tempelszene den unglücklichen Jüngling kennen. Er hat durch den Blick der Lilie sein Reich verloren. Krone, Zepter, Schwert und sein Königreich sind ihm genommen. Er trauert um dessen Verlust und er kennt keine Zukunft. Im Blick der Lilie ist die Existenz des Jünglings wertlos, sinnlos, leer geworden. Es ist der Blick auf die eigene Person, aus der Perspektive des Lichtes, des Ich, das sich im Denken erlebt hat. Im Blick auf mich aus der Perspektive der Lilie erscheine ich mir als wertloses Nichts, trauernd über meine Trennung von der Welt. Zugleich wird sichtbar, wie hässlich und ekelhaft mein Eigenwesen ist, wenn ich nicht durch die Selbstblendung des eigenen Hochmutes getäuscht bin. Das einzige Glück das dem Jüngling jetzt noch vorstellbar ist, ist die vollständige Vereinigung mit der Lilie, die ihm aber mit der Berührung zugleich den Tod bringen wird. So geht er zur Lilie und wirft sich ihr in die Arme, den eigenen Tod besiegelnd. Zuvor aber hier zum zweiten Mal das Wort: „Es ist an der Zeit.“
7. Wenn ich einen anderen Menschen anblicke, kann ich meine Aufmerksamkeit darauf lenken, wie er „objektiv“ ist. Dann sehe ich leicht das Hässliche, das Negative, das Unvollkommene. Nimm eine beliebige negative Eigenschaft und bestimme das Wesen eines Mitmenschen als in dieser Eigenschaft liegend. In dieser Handlung würde bemerkbar, dass die scheinbar objektive Wahrheit über den anderen in Wirklichkeit nicht nur ein Abbild einer Wirklichkeit ist. Sondern die Handlung, selbst wenn es richtig wäre, was ich über den anderen denke, würde auch seine Zukunft prägen. Was ein Anderer werden kann, hängt auch davon ab, wie andere auf ihn blicke. So wird sichtbar, dass jeder Blick, jeder Gedanke über andere auch auf die Zukunft des anderen wirkt. Das gilt nicht nur für andere, sondern auch für mich selbst: Wie etwa im vorigen Abschnitt der trauernde Jüngling, der durch den Anblick der Lilie seine eigene Unvollkommenheit vollständig erblickte. Im Denken erfasse ich also nicht nur, was jetzt „objektiv“ da ist, was geworden ist, sondern gestalte an dem mit, was einmal sein wird. Das ist immer der Fall, auch wenn ich meine, nur „die Wirklichkeit“ „abzubilden“. Ich kann also mit dem Denken sehen, was noch gar nicht da ist, sagen, was sein soll und wirke dadurch an der Zukunft des Anderen. Indem das Denken das durchschauen lernt, befreit es sich von dieser Macht des Faktischen. Der Mächtige in der Macht des Faktischen wird in der Anthroposophie „Ahriman“ genannt. Er wirkt so, dass er das Erscheinende als „Sache“ als „Ding“ erscheinen lässt und die Wahrheiten, als „Fakten“, die „objektiv“ so sind. Aber in diesem Blicken liegt eine sich verbergende Kraft, die auch die Zukunft des Angeblickten auf diese Vergangenheit festlegt. In dieser unbemerkten Eigenschaft Zukunft zu schaffen, in dem „nur“ das Faktische festgestellt wird, liegt das Böse Ahrimans. Seine Offenlegung bedarf nicht Demut, wie diejenige Luzifers, sondern Mut. Mut, die Fakten durch Setzungen zu durchbrechen, Mut, die Herrschaft über die Wirklichkeit nicht der Vergangenheit zu überlassen, etwa indem ich das Andere als ein „Du“ ansehe.
8. Hier tritt eine andere Schwierigkeit auf: Wonach soll ich mich denn im Blicken ausrichten? Ich komme in die Verlegenheit, selbst offenlegen zu müssen, was in der Zukunft sein soll. Was ist denn das Kriterium meiner Herrschaft? Die Wahrheit? Schönheit? Güte? Oder, in der Bezeichnung des Märchens, die drei Könige Weisheit, Schein und Gewalt? Was soll denn in Zukunft sein? Oder Besser: Wer soll in Zukunft sein? Goethes Antwort erfahren wir am Ende des Märchens. Die Schlage ist bereit, sich zu opfern. Zuerst legt sie einen Kreis um den Jüngling und verhindert so seinen endgültigen Tod, sie überbrückt die Zeit, bis der Jüngling im Tempel wieder erweckt werden kann. Sie selbst zerfällt dann zu Edelsteinen, die zu einer neuen, mächtigen und öffentlichen Brücke über den Strom werden. Der Jüngling erhält im Tempel – wo zuvor zum dritten Mal die Worte „Es ist an der Zeit“ erklingen – von den drei Königen Krone, Zepter und Schwert verliehen. So erweckt, kann er sich mit der Lilie vereinigen und mit ihr zusammen herrschen. Es herrscht also nicht mehr ein Einzelner, sondern eine Beziehung. Dann spricht der Jüngling: „Herrlich und sicher ist das Reich unserer Väter, aber du hast die vierte Kraft vergessen, die noch früher, allgemeiner, gewisser die Welt beherrscht, die Kraft der Liebe.“ Der alte Mann mit der Lampe erwidert: „Die Liebe herrscht nicht, aber sie bildet, und das ist mehr.“ Goethes Antwort ist also ganz einfach. Er sagt nicht, was herrschen soll, sondern dass Liebe sein soll und „bildet“ das Andere dadurch. Andere können andere Ideale setzen, ich kann mich für die Liebe entscheiden. Vielleicht treffe ich andere, die das auch Wollen. Die Entscheidung beginnt schon im Blicken auf den anderen Menschen, auf die Objekte meiner Interessen oder meiner Wissenschaft. Ihnen eigene Existenz, eigene Würde verleihend frage ich nicht „Was ist es?“, Eigenschaften und Sach-Auskünfte provozierend, sondern ich frage – eine Antwort abwartend: „Wer bist Du?“
9. Ich kann – muss aber nicht – mich dafür entscheiden, die Antwort von dem Gefragten abzuwarten. Dann ist das, was von mir abhängt, die Möglichkeit, für ein eventuelles Antworten einen adäquaten Ort zu schaffen. Dieser Ort wäre für mich einer, an dem wahrhaftig gesprochen wird, offengelegt wird, wer spricht. Also ein Ort der Erkenntnis. Ein Ort, an dem das Gefragte sich bedingungslos als Ich aussagen kann. Also ein Tempel. Ein Ort, an dem es sein kann, wie es „wirklich“ ist, mit allen Schwächen. Also ein Ort der Selbsterkenntnis. Ein Ort, sich selbst zu erschaffen, wie es künftig sein möchte. Also ein Ort der Entwicklung. Ein Ort, an dem das Gesprochene Gehör findet und wo der Sprecher ein „Du“ auf Augenhöhe ist. Also ein Ort des Gesprächs. Diesen Ort wollte ich „Wissenschaft in der Du-Perspektive“ nennen, weil er die Ich-Perspektive kennt und achtet, aber dem Hörenden seinen Namen, das ist seine Vergangenheit offenlegt. Weil er die „Es-Perspektive“ kennt und achtet, aber weiterführt, weil er auf die die Zukunft des Wesens hören will. Weil er die Gegenwart des anderen Wesens voraussetzt. Dieser Ort ist so aber keine „Sache“, die man macht, wie etwa „Wissenschaft“. Aber er ist kein Ort im Raum, sondern ein Ort in der Zeit. Ein Ort, an dem ich fragen würde, wofür sich die anderen entschieden haben. Genauso wie Philipp und Johannes, die offenbar schon da sind. Entschuldigt, ich habe ein bisschen länger gebraucht. Ein Ort für: „Wer ist in der Zeit? Vier Tage Gespräch.“

Ein aktueller Begriff geistiger Gemeinschaftsbildung

Thomas Brunner, August 2007

Ein wesentliches Charakteristikum der modernen Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung kann damit gekennzeichnet werden, dass alle Verhältnisse einer zunehmenden Anonymisierung unterworfen sind. Die Ur-Wirtschaftsgesellschaften waren ja ganz unmittelbare (Selbstversorgungs- und dann Tausch-) Gemeinschaften. Mit dem Entstehen der Rechts-Gemeinschaften entstanden neue Ordnungen: die Anfänge der modernen Nationalstaaten und damit auch des modernen Geldwesens. Damit blühte der überregionale Handel auf. Die ursprüngliche Nähe von Produzent und Konsument löste sich immer mehr, die Arbeitsteiligkeit wurde zum Wirtschaftsprinzip. In gewisser Weise aber blieb ein Strang des alten naturgebundenen Wirtschaftens aktiv, in dem die Staaten (zuerst als Monarchien, dann als steuernde "Demokratien") nicht als reine Rechtsgemeinschaften gedacht wurden, sondern immer noch als Wirtschaftsgemeinschaften, also sozusagen als auf ein ganzes Volk erweiterte hierarchisch geordnete "Familien", d.h. Oligarchien. Diesen Status pflegen die Nationalstaaten im Grunde bis heute. Dies ist aber in einer Zeit, die längst als Weltwirtschaftsgemeinschaft arbeitet, ein offensichtlicher Anachronismus. Dazu kommt, dass sich mit der Zeit ein anderes Verhältnis zur Erde ausbildete, die Menschen machten sich die Erde nicht nur „untertan“, sondern sie verwirtschaftlichten auch Grund und Boden, indem Sie Eigentumsrechte an der Erde bildeten.
Was bedeutet es nun also die Staaten zeitgemäß weiter zu entwickeln? Offensichtlich doch wohl vorallem, dass die Staaten ihr eigenes Wirtschaften (d.h. ihr eigenes, durch Steuergelder, das soziale Leben-Lenken) überwinden. Dieses eigene Wirtschaften geschieht insbesondere durch Subventionen. Mit dem "Bedingungslosen Grundeinkommen" wird nun in gewisser Weise eine neue Art von Subvention geschaffen, da nicht mehr konkrete Zwecke und Institutionen subventioniert werden, sondern der einzelne Staatsbürger. Dieser einzelne Staatsbürger ist natürlich potentiell Menschheits-Mensch (=Individualität) und doch ist er ja als solcher noch gar nicht angefragt, sondern eben als Mitglied dieses einen Nationalstaates. Genau betrachtet überwindet das "Bedingungslose Grundeinkommen" den anachronistischen Status des nationalen Einheitsstaates als Wirtschaftsgemeinschaft im alten Sinne also NICHT, sondern manifestiert diesen Status sogar auf einer viel tieferliegenden Ebene.
Natürlich muss sehr gewissenhaft gefragt werden, in wie weit das „Bedingungslose Grundeinkommen" trotzdem zumindest ein Schritt in der richtigen Richtung ist. Dazu aber ist selbstverständlich notwendig zu wissen, was denn die richtige Richtung wäre. Was heißt es also konkret, den Staat als egoistisch wirtschaftendes "Sozialsubjekt" zu überwinden? Was heißt es also, das Individuum wirklich als Individualität zu erfassen? Kann diese Frage staatlich überhaupt beantwortet werden? Oder muss nicht vielmehr ein neues Gebiet der Selbstbesinnung des Menschen überhaupt erst gebildet werden, von dem aus dann die zeitgemäße Umgestaltung der Staaten ausgehen und auch ein wirklich zeitgemäßes transnational-assoziatives Wirtschaften impulsiert werden kann?

Diese Fragen lebensvoll gestellt führen in einen aktuellen Begriff geistiger Gemeinschaftsbildung und eröffnen einen Zugang in die Geschichte, das Wesen und den Menschheitsauftrag der Kunst...

Kunst, das bedeutet doch erst einmal sicher etwas, was nicht ohne den schöpferischen, gestaltenden Menschen da wäre.
Das gilt für die bildnerischen und musischen Künste in gleicher Weise wie für Begriffs-zusammenhänge, die eben auch nicht einfach vor-gefunden werden, sondern denkend im Bewusst-sein gebildet werden müssen. Letztendlich ist die gesellschaftliche „Gerechtigkeit“ eben auch kein „Naturerzeugnis“, sondern dafür der Ausdruck, ob oder ob nicht in genügender Weise in Zusammenhängen gedacht wird.
Friedrich Schiller war der Erste, der die künst-lerische Dimension des Denkens (und seine Anschaubarkeit) herausgearbeitet hat. In Hegels Ästhetik gibt es dann bereits die fünf Künste:
Architektur,
Plastik,
Malerei,
Musik und
Dichtung oder Begriffskunst.
Bei Rudolf Steiner kommt die Eurythmie und die „soziale Kunst“ dazu. In diesem Sinne spricht auch Joseph Beuys von der „Erweiterung des Kunstbegriffs“.
Andererseits ist die Kunst eine Methode:
mit Elementen, ob sinnlicher oder übersinnlicher Natur, zu „s p i e l e n“, d.h. nicht nur „Natur-gesetzen“ oder „Vernunftgesetzen“ einseitig zu folgen, sondern (mit den Worten Schillers):
„Stoff-“ und „Formtrieb“
im „Spiel“
eine Verbindung eingehen zu lassen
- sonst „zerfällt“ der Mensch und wird „Wilder“ („wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen“) oder „Barbar“ („wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören“).
Schiller geht davon aus, dass das soziale Leben selbst eine künstlerische Aufgabe ist; insofern es hier gilt, verschiedene einseitige Kräfte-Wirkungen zum Ausgleich auf einer höheren Ebene zu bringen. Deshalb entwirft Schiller mit seinem „ästhetischen Staat“ eine gesellschaftliche Sphäre, die aus den jeweils individuell gegebenen wirtschaftlichen Möglichkeiten, sowie den einsehbar-rechtlichen Notwendigkeiten als dritter gesellschaftlicher Bereich neben Wirtschaft und Staat gebildet werden muss.
„Gleich frei von der eiteln Geschäftigkeit, die in den flüchtigen Augenblick gern ihre Spur drücken möchte, und von dem ungeduldigen Schwärmergeist, der auf die dürftige Geburt der Zeit den Maßstab des Unbedingten anwendet, überlasse er [der „soziale Künstler“] dem Verstande, der hier einheimisch ist, die Sphäre des Wirklichen; er aber strebe, aus dem Bunde des Möglichen mit dem Notwendigen das Ideal zu erzeugen.“ (Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 9. Brief)
Dieser Methode entsprechend wird über hundert Jahre später Rudolf Steiner einen der zentralen „Kernpunkte der sozialen Frage“ beschreiben und damit einer zeitgemäßen Entwicklung der Zivilgesellschaft ihren wegweisenden Impuls geben:
„Eine Universalarznei zur Ordnung der sozialen Verhältnisse gibt es so wenig wie ein Nahrungsmittel, das für alle Zeiten sättigt. Aber die Menschen können in solche Gemeinschaften eintreten, dass durch ihr lebendiges Zusammenwirken dem Dasein immer wieder die Richtung zum Sozialen gegeben wird. Eine solche Gemeinschaft ist das sich selbst verwaltende geistige Glied des sozialen Organismus.“ (Rudolf Steiner, Die Kernpunkte der sozialen Frage, Vorrede und Einleitung, Dornach 1996, Seite 14)

In diesem Sinne ist es an der Zeit, wieder ein grundlegendes Verständnis für die soziale Bedeutung eines wahrhaft freien und sich zivilgesellschaftlich selbstverwaltenden Bildungs- und Kulturlebens zu erarbeiten – um den Übergang vom politisch-utopischen Denken zu wirklich sozialwirksamer künstlerischer Handlungsfähigkeit und daraus hervorgehender Gesellschaftsgestaltung zu finden.