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Eindeutigkeit

Philipp Tok

Du beginnst zu lesen. Ich habe den Stift in Bewegung gebracht. – Vor dem Anfang war das Vergessen. Um zum Ende zu kommen, werde ich mich dem Erinnern widmen.

Peter Sloterdijk teilcharakterisiert die Persönlichkeit von Jacques Derrida mit den Worten ›Seine Bahn war bestimmt von der immer wachen Sorge, auf eine bestimmte Identität festgelegt zu werden…‹ Ich lese und finde mich wieder. Vor drei Monaten hätte ich gern aus einem reissenden Willensstrom geantwortet, an der Zeit ist:

1. Eine menschliche, inhaltsvolle Wissenschaft, die eine neue Verbindung mit der Welt ermöglicht, eine neue Liebe zur Welt eröffnet. Universell, individuell, jenseits äusserer Autoritäten.

2. Eine neue kulturelle Identität. Gefragt sind innerlich bewegliche wie umfassende Identitäten, die sich lösen aus der Tradition äusserer feststehender Gesichtspunkte. Identitäten, die das individuelle Gestelltsein vermitteln mit der globalen Zivilisation.

3. Eine Anschauungsweise, die sich weder am Stoff noch an der Idee orientiert, als vielmehr in alles untertaucht und in allem bildet.

4. Das Verständnis, dass Arbeit heute als Medium begriffen werden muss, in dem etwas zur Erscheinung und Verwirklichung kommen will, was jenseits des offenbaren und scheinbaren Zweckes der Form der Arbeit anzusiedeln ist. Arbeit als Identität hat abgewirtschaftet.

Zusammenfassung: Das Ende der Eindeutigkeit ist an der Zeit.

Damit ist eine Position angedeutet, die meine innere Verfassung spiegelt. Doch mir wurde die Frage neu zur Frage. ›Was ist an der Zeit?‹ – Der Willensstrom versiegte im Spätsommer. Worauf zielt die Frage? Was spricht sie selber aus? Was erwarten wir von der Antwort? – Ich wende mich an Goethes Märchen, dem Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie. Hier spricht die abstrakte Frage als füllige Antwort. Hier könnte etwas von ihrem Wesen sichtbar werden.

›Die Zukunft liegt in den Archiven.‹ Auf die Erfüllung einer alten Weissagung lässt Goethe seinen alten Mann mit der Lampe hinweisen, indem er ihm das Wort ›Es ist an der Zeit‹ in den Mund legt. Die Weissagung: Eine Brücke wird die beiden Ufer des Flusses miteinander verbinden, eine mächtige Brücke. ›Pferde und Wagen und Reisende aller Art sollen zu gleicher Zeit über die Brücke her-über und hinüber wandern. Ist nicht von den großen Pfeilern geweissagt, die aus dem Flusse selbst heraussteigen werden?‹ Am Ufer wird ein Tempel stehen. Ebenso beinhaltet die Weissagung Hinweise auf die Zeichen, unter denen die Erfüllung stehen wird. Drei mal wird die Lilie an einem Tag das Wort zu hören bekommen, dann ist es soweit. ›Es ist an der Zeit.‹

Die Magie der Aussage liegt in ihrer Qualität aktuell vergehender, sich erfüllender Zukunft. Alle Zeitelemente nimmt der Satz in sich auf. Er verkündet die Erfüllung einer langersehnten, zurückliegenden Voraussage in der gegenwärtigen Zukunft. Die Aussage ist ein Zeitspiel. Das Bewusstsein wird von diesem Spiel in eine Steigerung getrieben. Alle Zeiten fliessen ineinander. Die ganze Welt, von Anfang bis Ende, versammelt sich in der Gegenwart.

Vergangene Zukunft
Gegenwärtige Zukunft
Zukünftige Zukunft

Zukünftige Gegenwart
Vergangene Gegenwart
Gegenwärtige Gegenwart

Gegenwärtige Vergangenheit
Zukünftige Vergangenheit
Vergangene Vergangenheit

Die so erzeugte Gegenwart des Lesers hebt sich aus der ernüchterten Vorstellung eines ablaufenden Zeitstroms. Alles ist sinnhaft verwoben, von Anfang bis Ende. Jedes eintretende Unglück erfährt innerhalb des Märchens Verglückung. – Das Bild der Brücke lässt sich auf die Aussage ›Es ist an der Zeit‹ rückanwenden. Sie selbst ist der ›Bogen‹, die sinnvolle Verbindung aller voneinander getrennt erscheinenden Ereignisse und Orte.

Goethe verweist mit seiner Haltung, die Frage nicht aufzuwerfen, sondern sie ausschliesslich zu beantworten, auf ein Geheimnis, das in der Frage Widerstand desjenigen wird, der sie versucht zu beantwor-ten. Das an der Zeit sein ist eine Tat. Das Sagen, was an der Zeit ist, ist eine Gewalt. Welcher Instanz gestehen wir zu, über diese Frage zu entscheiden? – ›Es ist an der Zeit.‹ ist eine Weltaussage, die in Form des Märchens unsere empfänglichen Gefühle anspricht. Würde Goethe vor seine Zeitgenossen hingetreten sein und ihnen angesagt haben, wie spät es ist, hätte er wohl kaum mehr als den Eigensinn der Angesprochenen herausgefordert. In den Bildern des Märchens können wir uns einigen. Sie lassen uns frei.

Schauen wir aufgrund dieser Betrachtung erneut auf die Frage ›Was ist an der Zeit?‹, erscheint sie als dunkel und eigenartig. In ihr fehlt die Brücke. Das ›Es‹, das umfassende, einhüllende Wesen, die unsichtbare Autorität, die die Geschicke gestaltet. Wir sind zurückgeworfen auf unseren mageren Verstand, in dem das ›Was‹ herrscht. Uns fehlt der Gehalt einer Vorhersage, die an die Zeit tritt. Umgewendet will die Frage von der Zeit ausgehend auf ein Ereignis schliessen, das eintreten soll. Ein unmögliches Unterfangen?

Jeder Versuch, die Frage zu beantworten, verweist auf die eigene Verfassung, die eigene Fähigkeit. Was für mich ansteht, vermag meine Phantasie auszuspüren. Die Frage ›Was ist an der Zeit?‹ ist jedoch nicht die Frage ›Was ist für mich dran?‹ Ihr Kern, Reiz und ungreifbarer Sinn liegt in ihrer allgemeinen Formulierung. – Reicht meine Phantasie aus, um eine allgemeine Antwort, das heisst eine für die ganze Welt zu geben? Kann ich die unsichtbar waltende Autorität und den Alten mit der Lampe in mir vereinen? Über das Gegebene hinausgehen? Das Ganze sinnhaft fügen?

Treten wir zurück von der Phantasie, die von der Frage gefordert ist, in die Vernunft. Können wir benennen, wo die heiklen, die pontentiellen Themen der Gegenwart liegen, die den Bogen neu spannen könnten? Die Frage fragt nicht nach einer ewigen Antwort, die vor einhundert Jahren ebenso aktuell wie in einhundert Jahren gewesen wäre. Doch soll sie den Charakter des Ewigen, des Sich-sinnvoll-aufeinander-Beziehens aller gegebenen Elemente bergen.

Was sind die gegebenen Elemente? – Die Welt ist zerfallen in Subsubsubkulturen, Individualitäten, gefangen im Unwissen um ihre eigenen Voraussetzungen. Jenseits des individuellen Bewusstseins vollzieht sich das Weltenschicksal. Wir stehen in jener Zeit, in der das Subjekt zum Herren einer objekthaften Welt geworden ist. Das Subjekt verfolgt halbwach die Erschaffung von möglichst unbegrenzt schmerzfreiem Glück. Der berechnende Verstand steht in Kulmination mit den unveredelten Instinkten. Nennen wir es kurz das Komfortglück. Eine gewaltige Kraft. Innerhalb weniger hundert Jahre gestaltete
sie fast die gesamte Erdoberfläche samt menschlicher Lebenswelt um. – Welche Idee kann sich einer solchen Gestaltungskraft rühmen? Doch erschöpft sich das Weltgeschehen in dem so gewonnenem Status? An einem Ufer stehen die vereinzelten, orientierungslosen, doch selbstverwirklichenden Subjekte. Am anderen Ufer steht eine tote, objekthafte Welt, die Welt der Maschine, der Mechanismen, der Funktionen.

Was hätte die Kraft, eine neue Brücke zu schlagen? Die Objekte zu subjektivieren. – ›Ist es nicht das Telefon, das sich für mich interessiert?‹ – Das Individualisierte dem Ganzen neu einzuverleiben? Was wär heute eine Wissenschaft, die sich nicht um ein Teilgebiet, sondern um das Gesamtgebiet bemüht?

›Endlich ahnen, nicht immer wissen‹ hat ein Engel im ›Himmel über Berlin‹ gesagt. – Wir suchen einen Vorgang. Das, was vor der Erkenntnis liegt.Heisst das Zauberwort Identifizieren? Untertauchen in die Welt der Erscheinungen, in die Welt der Taten, in die Welt der Identitäten? Die Einseitigkeiten aufeinander loslassen? Das Getrennte in den eigenen Zusammenhang verweben? Das Verhangene differenzieren?

Am Ende von Goethes Märchen erstarrt der tapsige Riese in einem Kreis aus Bildern. Der Riese verkörpert den Rausch, der Bilderkreis das Weltenschicksal. Zusammen bilden sie auf dem Vorplatz des Tempels eine gewaltige Uhr. Vom Schatten des Riesen wird gesagt, dass er alles vermag, im Gegensatz zu seinem Leib, der keinen Strohhalm zu heben vermag. Dieser Schatten taucht nun unter in die Bilder. Er wird zu einem Zeiger. Jenem Zeiger, der sagt, was an der Zeit ist. Er weist auf Bilder, auf Vorgänge, die in die Zeit treten.

Gerade war ich in Berlin auf dem Festival ›9to5 – Wir nennen es Arbeit‹. Die selbsternannte ›digitale Bohème‹ traf sich drei Tage und Nächte zum Leben und Arbeiten. Der alte Arbeitstag von 9 Uhr Vormittag bis 17 Uhr wurde hier umgedreht, von 21 Uhr bis 5 Uhr am Morgen gab es Konzerte, Lesungen und Seminare. Hier standen Fragen im Zentrum wie ›Was wäre ein linker Neo-Liberalismus?‹ Vier Uhr am Morgen sitze ich am Rand des tanzenden Konzertsaals und setze Texte. – Das Spiel der Identitäten ist eröffnet.

Vergessen? Derrida erscheint am Horizont unter der glühenden Sonne ›Als ob das Ende der Arbeit am Ursprung der Welt stünde.‹ – Ich werde den Stift bei-seite legen. Du hörst auf zu lesen. ‹



Peter Sloterdijk – Derrida, ein Ägypter, Suhrkamp 2007; Johann Wolfgang Goethe – Das Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie, Die Horen 1795; Wim Wenders und Peter Handke – Der Himmel über Berlin, Road Movies Filmproduktion/Argos Films 1987. Jacques Derrida – Die unbedingte Universität, Suhrkamp 2001.

2 Kommentare:

  1. Hallo Herr-z Tok,
    seltsamerweise habe ich neulich gerade auch mal wieder das Goethische Märchen gelesen und war tränenergriffen. Die Aussage "ich nehme deine Hand von neuem an und mag gern mit dir in das folgende Jahrtausend hinüberleben" bezieht sich zwar auf den Alten und sein verjüngertes Weib, aber sie schließt ebenfalls einen Bund, der sich von Mensch zu Mensch vollzieht. Wenn ich nun nicht mehr in einer bestimmten Identiät gefangen bin, wäre es mir möglich für jede Begegnung mit einem Menschen diesen Bund zu schließen, in der Liebe "die nicht herrscht, sondern bildet". Da bräuchte es keinen Raum der Identität mehr, weil mir in jedem Moment möglich wäre mein Ich sich auf den Anderen einstellen zu lassen. Dieser Bund des Alten mit seiner Frau ist gleichsam ein Menschheitbund, gegründet auf einen Willensentscheidung, die wiederum erst den Raum eröffnet für was auch immer dann geschehen wird. Als eine Art Grundbedingung, in der erst Neues geschehen kann und sich nicht das Identitäten- kauderwelsch von vorn herein festlegt. Gruß aus Erinnerung.

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  2. Hallo Philipp,

    danke für die nachdenklichen, vielsaitig gestimmten Zeilen. Nach meinen ersten Eindruck wirfst Du wie ein Licht aus einer fremdem freundlichen Zukunft heraus. Die Verhältnisse der Gegenwart drängen sich mir jedoch auf und lassen das ganze als Utopie in den Paradiesvogel-Bereich rücken, denn mit so einem Anspruch stehst Du nicht in unserer Zeit, sondern bringst ihr eher etwas, was sie braucht. Mir ist klar, dass Du auf so etwas wie den Zeitgeist anspielst, aber es wird doch leicht missverständlich, wenn man es nicht auseinanderdividiert.
    Der Begriff der Moderne, tritt auch in der Postmoderne zumindest unausgesprochen auf. Es gibt das handfeste Ringen darum, was zeitgemäß ist, was gerade dran ist und wo es hin gehen wird. Auf dieser Ebene herrscht Druck, aktive Intoleranz und Agressivität. Was nicht "modern" ist, also was nicht geläufig ist, oder "von gestern" wirkt, wird abgelehnt. Und das oft in einer Arroganz, schnellurteilend, dass ich denke: Ist das Denken?
    Von daher finde ich Dein Zeit-Spiel prima, da es ein wenig dazu anregt, den Schatten seiner Zeit zu überspringen.

    Grüße

    Daniel Jankowski

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