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Ich bin an der Zeit

Benjamin Kolass

Wer sonst sollte es sein? Ja, auch du, aber dann ist‘s an dir, dies zu sagen!
Von Kindheit an bin ich an der Zeit. Damals öffnete ich morgens die Augen und begann die Welt um mich zu erobern. Die Zimmer im Haus, den Garten, die Strassen im Dorf, den Schulunterricht, überall, wo ich war, war ich an der Zeit. Denn ich war dabei, in den Ereignissen um mich. Auch meine Eltern, die meinen Rhythmus bestimmten, gehörten dazu. Sie waren Teil meiner Welt, wie das Bimmeln der Schulglocke oder das läuten des Kirchturms.
Das änderte sich vor meinem 11. Geburtstag. Im Schaufenster sah ich eine Armbanduhr und sofort war mein Wunsch klar. Die Uhr war ganz aus Me-tall, schlicht, mit leicht rot kariertem Ziffernblatt. Sekunden zeigte sie nicht, die gehörten ins Reich der schneller-weiter-höher-Fanatiker. Nur einmal pro Minute rückte der längere Zeiger voran und nahm den kürzeren ein Stück mit.
Nun hatte auch ich die objektive Zeit bei mir und begann, meine Zeit zu ordnen und zu bestimmen. Ich glaubte mich im Einklang mit allen anderen. Wohin ich kam, alle Uhren zeigten die selben Stunden und Minuten.
Dann kamen Handy, Laptop und Internet, und mit ihnen verschwand meine Uhr in der Schublade.Mein Handy zeigte auch die Zeit, und warum sie doppelt mit mir tragen? Noch wichtiger: Ich brauchte mich nicht mehr auf die Minute genau verabreden. Ich konnte anrufen, wenn ich da war. – War das Faulheit? Oder die Emanzipation von einer mit Stress durchzogenen Terminkalenderralley?
Ich fühlte mich jedenfalls frei und entspannt, wenn ich mein Studien- und Arbeitsleben so einrichten konnte, dass die Stundentaktung, die mir seit der Schulzeit durch meine und andere Uhren gegeben worden war, verschwand. Ich lebte fast zeitlos, nicht mal die Ziffern auf dem Handy interessierten mich mehr.
Inmitten dieser Zeitlosigkeit entdeckte ich eine neue Dimension. Scheinbar gab es Momente, in denen mir etwas zu fiel. Ein Gedanke, eine Begegnung, ein Buch. Etwas, das ich gesucht hatte, doch niemals systematisch durch ein Studium in Zeitkontingenten, bei der Arbeit mit der Stechuhr oder durch exakte Verabredung erreichte.
Zufall? Oder eine neue Form der Zeit, in die ich eingetaucht war? Vielleicht. Jedenfalls funktionierte diese Dimension nicht immer. Und nicht mit allen Menschen. Manche pochten auf pünktliches Erscheinen zum Termin, behielten ihre festen Arbeitszeiten genauso wie ihre feste FreiZeit. Andere waren immer zur rechten Zeit am rechten Ort, stets erreichbar und offen für das, was anstand. Um ihnen zu begegnen, verwandelte ich die Zeit, den Termin, in bestimmte Orte, an denen es wahrscheinlich war, sie dort anzutreffen. Oder die zufällige Begegnung an einem Ort bestimmte, dass jetzt die Zeit zum Austausch, zum Termin, gekommen war.
Was bedeutete das für mich? permanentes Warten auf Zufälle? Doch sie kamen meist dann, wenn ich nicht auf sie wartete, wenn ich sie nicht erwartete. Was konnte ich tun, um ihnen zu begegnen? Ich stellte fest, dass eine Verbindung zu den grundsätzlicheren Fragen in mir bestand. Nur war mir nicht immer bewusst, woher die Antwort tatsächlich kam. Doch ich konnte die Fragen anreichern, sie bewegen, erweitern, vertiefen. Und ich brauchte Empfindungsvermögen für Momente, für Orte, an denen die Zeit reif war. Aber die wichtigste Voraussetzung dafür war, dass ich in mir bin.
Ich bin an der Zeit, wenn ich all die Minuten meines Lebens da bin, mich für etwas begeistere, Verantwortung trage. Die Minuten gehören mir - sowie allen anderen - wenn ich in mir spüre, dass ich ihre Weiterentwicklung, ihr Potential sehe. Und ihre Ursachen in der Vergangenheit verstehe.
Dort am Fliessband der Maschine war ich nicht an der Zeit. Die Maschine bestimmte den Takt, den Ablauf der Handgriffe, immer gleich und ausserhalb von mir. Wie die Stechuhr, die meine Arbeitsstunden dokumentierte.
Bin ich an der Zeit, bestimme ich sie, flexibel, kreativ, phantasievoll, mit all diesen menschlichen Fähigkeiten. Durch mich dehnt oder verkürzt sich dann die Zeit, scheinbar relativ.
Ich bin an der Zeit, wenn ich an mir bin, ein Erlebnis von dem habe, was mein Beitrag zum grossen Ganzen ist, wenn ich meine Verbindung zur Welt erlebe. Dafür gibt es keine Gebrauchsanweisung, keine Schulung. Denn die Zeit ist kein System, dem ich mich anpassen kann. Sehe ich sie als System, muss ich mich unterwerfen oder sie mit Macht übernehmen. Könnte man sagen, es gibt ein inneres Gehör, durch das ich an die Zeit, an mich lauschen kann? Ich lege die Uhren zur Seite und wende den Blick nach innen, nach aussen. ‹

1 Kommentar:

  1. Sehr nachvollziehbarer Bericht über Zeitempfinden im Lauf eines Lebens
    und damit einhergehend die Entwicklung zu immer mehr bei-sich-sein.
    Lange Zeit habe ich gedacht, das Handy wäre in erster Linie Stressor und"Lebensbeschleuniger" und war daher eher
    handydistanziert. In der jetzigen Lebensphase jedoch ist es stimmig auf Empfang zu sein... Barbara Waldhoff

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