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Ich werfe meine Kleider ab

1. William Shakespeare

Die Zeit ist aus den Fugen: Fluch und Gram,
Daß, ich zur Welt sie einzurichten, kam.
(Hamlet)


2. Heiner Müller

Ich stehe zwischen Männern, die mir unbekannt sind, in einem alten Fahrstuhl mit während des Aufstiegs klapperndem Metallgestänge. Ich bin gekleidet wie ein Angestellter oder wie ein Arbeiter am Feiertag. Ich habe mir sogar einen Schlips umgebunden, der Kragen scheuert am Hals, ich schwitze. Wenn ich den Kopf bewege, schnürt mir der Kragen den Hals ein. Ich habe einen Termin beim Chef (in Gedanken nenne ich ihn Nummer Eins), sein Büro ist in der vierten Etage, oder war es die zwanzigste; kaum denke ich darüber nach, schon bin ich nicht mehr sicher. Die Nachricht von meinem Termin beim Chef (den ich in Gedanken Nummer Eins nenne) hat mich im Kellergeschoß erreicht, einem ausgedehnten Areal mit leeren Betonkammern und Hinweisschildern für den Bombenschutz. Ich nehme an, es geht um einen Auftrag, der mit erteilt werden soll. Ich prüfe den Sitz meiner Krawatte und ziehe den Knoten fest. Ich hätte gern einen Spiegel, damit ich den Sitz der Krawatte auch mit den Augen prüfen kann. Unmöglich, einen Fremden zu fragen, wie dein Schlipsknoten sitzt. Die Krawatten der andern Männer im Fahrstuhl sitzen fehlerfrei. Einige von ihnen scheinen miteinander bekannt zu sein. Sie reden leise über etwas, wovon ich nichts verstehe. Immerhin muß ihr Gespräch mich abgelenkt haben: beim nächsten Halt lese ich auf dem Etagenanzeiger über der Fahrstuhltür mit Schrecken die Zahl Acht. Ich bin zu weit gefahren oder ich habe mehr als die Hälfte der Strecke noch vor mir. Entscheidend ist der Zeitfaktor. FÜNF MINUTEN VOR DER ZEIT / IST DIE WAHRE PÜNKTLICHKEIT. Als ich das letztemal auf meine Armbanduhr geblickt habe, zeigte sie Zehn. Ich erinnere mich an mein Gefühl der Erleichterung: noch fünfzehn Minuten bis zu meinem Termin beim Chef. Beim nächsten Blick war es nur fünf Minuten später. Als ich jetzt, zwischen der achten und neunten Etage, wieder auf meine Uhr sehe, zeigt sie genau vierzehn Minuten und fünfundvierzig Sekunden nach der zehnten Stunde an: mit der wahren Pünktlichkeit ist es vorbei, die Zeit arbeitet nicht mehr für mich. Schnell überdenke ich meine Lage: ich kann beim nächsten möglichen Halt aussteigen und die Treppe hinunterlaufen, drei Stufen auf einmal, bis zur vierten Etage. Wenn es die falsche Etage ist, bedeutet das natürlich einen vielleicht uneinholbaren Zeitverlust. Ich kann bis zur zwanzigsten Etage weiterfahren und, wenn sich das Büro des Chefs dort nicht befindet, zurück in die vierte Etage, vorausgesetzt der Fahrstuhl fällt nicht aus, oder die Treppe hinunterlaufen (drei Stufen auf einmal), wobei ich mir die Beine brechen kann oder den Hals, gerade weil ich es eilig habe. Ich sehe mich schon auf einer Bahre ausgestreckt, die auf meinen Wunsch in das Büro des Chefs getragen und vor seinem Schreibtisch aufgestellt wird, immer noch dienstbereit, aber nicht mehr tauglich. Vorläufig spitzt sich alles auf die durch meine Fahrlässigkeit im voraus nicht beantwortbare Frage zu, in welcher Etage der Chef (den ich in Gedanken Nummer Eins nenne) mit einem wichtigen Auftrag auf mich wartet. (Es muß ein wichtiger Auftrag sein, warum sonst läßt er ihn nicht durch einen Untergebenen erteilen.) Ein schneller Blick auf die Uhr klärt mich unwiderlegbar über die Tatsache auf, daß es auch für die einfache Pünktlichkeit seit langem zu spät ist, obwohl unser Fahrstuhl, wie beim zweiten Blick zu sehn, die zwölfte Etage noch nicht erreicht hat: der Stundenzeiger steht auf Zehn, der Minutenzeiger auf Fünfzig, auf die Sekunden kommt es schon länger nicht mehr an. Mit meiner Uhr scheint etwas nicht zu stimmen, aber auch für einen Zeitvergleich ist keine Zeit mehr: ich bin, ohne daß ich bemerkt habe, wo die andern Herren ausgestiegen sind, allein im Fahrstuhl. Mit einem Grauen, das in meine Haarwurzeln greift, sehe ich auf meiner Uhr, von der ich den Blick jetzt nicht mehr losreißen kann, die Zeiger mit zunehmender Geschwindigkeit das Zifferblatt umkreisen, so daß zwischen Lidschlag und Lidschlag immer mehr Stunden vergehn. Mir wird klar, daß schon lange etwas nicht gestimmt hat: mit meiner Uhr, mit diesem Fahrstuhl, mit der Zeit. Ich verfalle auf wilde Spekulationen: die Schwerkraft läßt nach, eine Störung, eine Art Stottern der Erdrotation, wie ein Wadenkrampf beim Fußball. Ich bedaure, daß ich von Physik zu wenig weiß, um den schreienden Widerspruch zwischen der Geschwindigkeit des Fahrstuhls und dem Zeitablauf, den meine Uhr anzeigt, in Wissenschaft auflösen zu können. Warum habe ich in der Schule nicht aufgepaßt. Oder die falschen Bücher gelesen: Poesie statt Physik. Die Zeit ist aus den Fugen und irgendwo in der vierten oder in der zwanzigsten Etage (das Oder schneidet wie ein Messer durch mein fahrlässiges Gehirn) wartet in einem wahrscheinlich weitläufigen und mit einem schweren Teppich ausgelegten Raum hinter seinem Schreibtisch, der wahrscheinlich an der hinteren Schmalseite des Raumes dem Eingang gegenüber aufgestellt ist, mit meinem Auftrag der Chef (den ich in Gedanken Nummer Eins nenne) auf mich Versager. Vielleicht geht die Welt aus dem Leim und mein Auftrag, der so wichtig war, daß ihn der Chef mir in Person erteilen wollte, ist schon sinnlos geworden durch meine Fahrlässigkeit. GEGENSTANDSLOS in der Sprache der Ämter, die ich so gut gelernt habe (überflüssige Wissenschaft!), BEI DEN AKTEN, die niemand mehr einsehen wird, weil er gerade die letzte mögliche Maßnahme gegen den Untergang betraf, dessen Beginn ich jetzt erlebe, eingesperrt in diesen verrückt gewordenen Fahrstuhl mit meiner verrückt gewordenen Armbanduhr. Verzweifelter Traum im Traum: ich habe die Fähigkeit, einfach indem ich mich zusammenrolle, meinen Körper in ein Geschoß zu verwandeln, das die Decke des Fahrstuhls durchschlagend die Zeit überholt. Kaltes Erwachen im langsamen Fahrstuhl zum Blick auf die rasende Uhr. Ich stelle mir die Verzweiflung von Nummer Eins vor. Seinen Selbstmord. Sein Kopf, dessen Porträt alle Amtsstuben ziert, auf dem Schreibtisch. Blut aus einem schwarzrandigen Loch in der (wahrscheinlich rechten) Schläfe. Ich habe keinen Schuß gehört, aber das beweist nichts, die Wände seines Büros sind natürlich schalldicht, mit Zwischenfällen ist beim Bau gerechnet worden und was im Büro des Chefs geschieht, geht die Bevölkerung nichts an, die Macht ist einsam. Ich verlasse den Fahrstuhl beim nächsten Halt und stehe ohne Auftrag, den nicht mehr gebrauchten Schlips immer noch lächerlich unter mein Kinn gebunden, auf einer Dorfstraße in Peru. Trockener Schlamm mit Fahrspuren. Auf beiden Seiten der Straße greift eine kahle Ebene mit seltenen Grasnarben und Flecken von grauem Gebüsch undeutlich nach dem Horizont, über dem ein Gebirge im Dunst schwimmt. Links von der Straße ein Barackenbau, er sieht verlassen aus, die Fenster schwarze Löcher mit Glasresten. Vor einer Plakatwand mit Reklamen für Produkte einer fremden Zivilisation stehen zwei riesige Einwohner. Von ihren Rücken geht eine Drohung aus. Ich überlege, ob ich zurückgehen soll, noch bin ich nicht gesehen worden. Nie hätte ich gedacht, während meines verzweifelten Aufstiegs zum Chef, daß ich Heimweh nach dem Fahrstuhl empfinden könnte, der mein Gefängnis war. Wie soll ich meine Gegenwart in diesem Niemandsland erklären. Ich habe keinen Fallschirm vorzuweisen, kein Flugzeug oder Autowrack. Wer kann mir glauben, daß ich aus einem Fahrstuhl nach Peru gelangt bin, vor und hinter mir die Straße, von der Ebene flankiert, die nach dem Horizont greift. Wie soll überhaupt eine Verständigung möglich sein, ich kenne die Sprache dieses Landes nicht, ich könnte genausogut taubstumm sein. Besser ich wäre taubstumm: vielleicht gibt es Mitleid in Peru. Mir bleibt nur die Flucht ins hoffentlich Menschenleere, vielleicht vor einem Tod in einen andern, aber ich ziehe den Hunger dem Messer des Mörders vor. Mittellos mich freizukaufen bin ich in jedem Fall, mit meiner geringen Barschaft in der fremden Währung. Nicht einmal im Dienst zu sterben ist mir vom Schicksal vergönnt, meine Sache ist eine verlorene Sache, Angestellter eines gestorbenen Chefs der ich bin, mein Auftrag beschlossen in seinem Gehirn, das nichts mehr herausgibt, bis die Tresore der Ewigkeit geöffnet werden, um deren Kombination die Weisen der Welt sich abmühn, auf dieser Seite des Todes. Hoffentlich nicht zu spät löse ich meinen Schlipsknoten, dessen korrekter Sitz mich so viel Schweiß gekostet hat auf meinem Weg zum Chef, und lasse das auffällige Kleidungsstück in meiner Jacke verschwinden. Beinahe hätte ich es weggeworfen, eine Spur. Im Umdrehn sehe ich zum ersten mal das Dorf; Lehm und Stroh, durch eine offne Tür eine Hängematte. Kalter Schweiß bei dem Gedanken, ich könnte von dort aus beobachtet worden sein, aber ich kann kein Zeichen von Leben ausmachen, das einzig Bewegte ein Hund, der in einem qualmenden Müllhaufen wühlt. Ich habe zu lange gezögert: die Männer lösen sich von der Plakatwand und kommen schräg über die Straße auf mich zu, zunächst ohne mich anzusehn. Ich sehe die Gesichter über mir, undeutlich schwarz das eine, die Augen weiß, der Blick nicht auszumachen: die Augen sind ohne Pupillen. Der Kopf des andern ist aus grauem Silber. Ein langer ruhiger Blick aus Augen, deren Farbe ich nicht bestimmen kann, etwas Rotes schimmert darin. Durch die Finger der schwer herabhängenden rechten Hand, die ebenfalls aus Silber zu bestehen scheint, läuft ein Zucken, die Blutbahnen leuchten aus dem Metall. Der Silberne geht hinter mir vorbei dem Schwarzen nach. Meine Angst verfliegt und macht einer Enttäuschung Platz: bin ich nicht einmal ein Messer wert oder den Würgegriff von Händen aus Metall. Lag in dem ruhigen Blick, der fünf Schritte lang auf mich gerichtet war, nicht etwas wie Verachtung. Worin besteht mein Verbrechen. Die Welt ist nicht untergegangen, vorausgesetzt, das hier ist keine andre Welt. Wie erfüllt man einen unbekannten Auftrag. Was kann mein Auftrag sein in dieser wüsten Gegend jenseits der Zivilisation. Wie soll der Angestellte wissen, was im Kopf des Chefs vorgeht. Keine Wissenschaft der Welt wird meinen verlorenen Auftrag aus den Hirnfasern des Verewigten zerrn. Mit ihm wird er begraben, das Staatsbegräbnis, das vielleicht jetzt schon seinen Gang nimmt, garantiert die Auferstehung nicht. Etwas wie Heiterkeit breitet sich in mir aus, ich nehme die Jacke über den Arm und knöpfe das Hemd auf: mein Gang ist ein Spaziergang. Vor mir läuft der Hund über die Straße, eine Hand quer in der Schnauze, die Finger sind mir zugekehrt, sie sehn verbrannt aus. Mit einer Drohung, die nicht mich meint, kreuzen junge Männer meinen Weg. Wo die Straße in die Ebene ausläuft, steht in einer Haltung, als ob sie auf mich gewartet hat, eine Frau. Ich strecke die Arme nach ihr aus, wie lange haben sie keine Frau berührt, und höre eine Männerstimme sagen DIESE FRAU IST DIE FRAU EINES MANNES. Der Ton ist endgültig und ich gehe weiter. Als ich mich umsehe, streckt die Frau die Arme nach mir aus und entblößt ihre Brüste. Auf einem grasüberwachsenen Bahndamm basteln zwei Knaben an einer Kreuzung aus Dampfmaschine und Lokomotive herum, die auf einem abgebrochenen Gleis steht. Ich Europäer sehe mit dem ersten Blick, daß ihre Mühe verloren ist: dieses Fahrzeug wird sich nicht bewegen, aber ich sage es den Kindern nicht, Arbeit ist Hoffnung, und gehe weiter in die Landschaft, die keine andere Arbeit hat als auf das Verschwinden des Menschen zu warten. Ich weiß jetzt meine Bestimmung. Ich werfe meine Kleider ab, auf das Äußere kommt es nicht mehr an. Irgendwann wird DER ANDERE mir entgegen kommen, der Antipode, der Doppelgänger mit meinem Gesicht aus Schnee. Einer von uns wird überleben.

Ausschnitt aus ›Der Auftrag‹ (Der Mann im Fahrstuhl)
aus: Heiner Müller: Revolutionsstücke. (Hrsg.) Uwe Wittstock. Stuttgart, 1988.

Eingereicht von Sascha Scholz

2 Kommentare:

  1. oder so:

    "Arbeit ist Hoffnung"
    ...jeder an seinem momentanen Platz - mit seinem eigenen Maß die Welt verändern...

    "Ich weiß jetzt meine Bestimmung. Ich werfe meine Kleider ab, auf das Äußere kommt es nicht mehr an."
    ...und dann sind wir glaubwürdig.

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  2. "Goethe antwortet mit dem Märchen von der grünen Schlange und der Lilie mit der Darstellung der Begabung des Menschen durch
    • den „Goldenen König“, den „Silbernen König“ und den „Ehernen König“, mit denen er die Seelenfähigkeiten des Denkens, Fühlens und Wollens anspricht."

    (Prof. Dipl.-Ing. Karl-Dieter Bodack)

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